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Onlinebesprechung

‹Wer bin ich und wenn ja, wie viele?› Ein Therapievorschlag für die Medienwissenschaft/en

1.3.2010

Ein Gespenst geht um in deutschsprachigen Forschungsgefilden, vor allem dort, wo man sich hauptamtlich mit ‚Medien’ beschäftigt. Es ist das Gespenst der Selbstbefragung, das diese ‚Medienwissenschaften’ unermüdlich umtreibt. Allein schon die Bezeichnung ‚Medienwissenschaften’ provoziert eine dementsprechende doppelte selbstreflexive Schleife: Wer bin ich und wenn, ja wie viele?1 Egal, ob es um den vermeintlichen ‚deutschen Sonderweg’ der Medienwissenschaft(en?) geht,2 um ein Positionsbestimmung der Gesellschaft für Medienwissenschaft,3 die Festlegung vermeintlicher Eckpunkte der Kommunikations- und Medienwissenschaft durch die Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft4 oder um die Gründung medienwissenschaftlicher Zeitschriften5 – die Frage nach der Identität der Medienwissenschaft/en scheint den beteiligten Akteuren unter den Nägeln zu brennen. Das ist nur allzu verständlich, geht es doch neben identitätslogischen Fragen dabei eben auch ganz praktisch und existenziell um Forschungsgelder, institutionelle Verankerungsoptionen, biografische Entscheidungen, sprich um Zukunft.6

Gedanken um die Zukunft der Medienwissenschaft/en macht sich auch Christian Filk – inzwischen Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Hochschule für Technik und Wirtschaft im schweizerischen Chur. In seiner unlängst im Transcript-Verlag erschienenen Dissertation unterbreitet er in einer gleichermaßen voluminösen wie kenntnisreichen Studie einen diskussionswürdigen Vorschlag, worin diese Zukunft bestehen könnte und wie ihre Verlaufsform vor dem Hintergrund historischer Prozesse zu beschreiben sei.

Bis Filk jedoch auf diese Zukunft genauer zu sprechen kommt, müssen wir, seine Leser, einen langen Atem beweisen. Werden doch zuvor zunächst einmal ganz generell „zentrale Standpunkte zur Theorie, Historie und Funktion der Wissenschaftsforschung“ (S. 32) in den Blick genommen. Vorrangig wird hierbei auf Probleme dieser Standpunkte hingewiesen (vgl. S. 43ff.). In einem zweiten Schritt wird dann eine systemtheoretisch fundierte Wissenschaftsforschung als Problemlösungsstrategie entworfen (vgl. S. 118ff.). Mit solch einem systemtheoretischen Vokabular ausgestattet, wendet sich Filk anschließend der historischen Verlaufsformen der Medienforschung zu (vgl. S. 171ff.). Anhand zweier Tendenzen, nämlich der Diskussion um die Medienphilosophie (vgl. S. 209ff.) und der institutionellen Etablierung der Medieninformatik (vgl. S. 259ff.), wird rekonstruiert, welche Entwicklungslinien sich in jüngster Zeit in der Medienforschung abzeichnen. Im Schlusskapitel werden dann die Zukunftsoptionen der Medienforschung genauer in den Blick genommen (vgl. 317ff.).

Den Auftakt des Buches bildet indes das komplementäre Gegenstück zum Schlusskapitel. Dort erläutert Filk nämlich, worin die Zukunft der Medienforschung gerade nicht bestehen soll. Der immer wiederkehrende Verlauf medienwissenschaftlicher Selbstfindungsdebatten vollziehe sich zumeist im Modus eines unerbittlichen Freund-Feind-Schemas. Dieser Modus sei aber kaum produktiv, geschweige denn ein geeignetes Zukunftsmodell. Für diese Einschätzung Filks spricht doch vieles. Um nur einige gängige Varianten solcher Dichotomien zu nennen: Wir, die reflektierte (und permanent reflektierende) Medienwissenschaft gegen die ‚Anderen’, die Erbsen zählenden Kommunikationswissenschaft. Wahlweise umgekehrt: Die methodologisch redlichen Kommunikationswissenschaftler gegen die Hirngespinste der Medienwissenschaftler.7 Oder auch in einer kleinteiligeren Variante formuliert: Die vermeintlich technikvergessene Medienphilologie wird gegen eine technikorientierte Medienhistoriografie ins Feld geführt.8 Gern und häufig werden dabei en passant auch Hegemonialansprüche angemeldet, in der die Medienwissenschaft dann etwa zur „diensthabende[n] Fundamentaldisziplin“ 9 ausgerufen wird. Ganz ähnlich sieht es aus, wenn ‚Kommunikationswissenschaftler’ davon überzeugt sind, dass das, was die ‚Medienwissenschaftler’ machen, eigentlich immer schon Teil der Kommunikationswissenschaft ist, und dementsprechend strukturlogisch wie institutionell darin aufzuheben sein müsste.10 Welche Variante des Freund-Feind-Schemas auch gewählt wird, sie führt zu Spannungen und – wenig verwunderlich – schnell in zähe Grabenkämpfe. Genau deshalb glaubt Filk nicht, dass diese Art der Selbstbeschreibung eine allzu produktive und zukunftsträchtige Option darstelle.

Genauso wenig scheint es aber für Filk eine Option zu sein, Medienwissenschaft/en über einen klaren Gegenstandsbezug Identität zu verleihen oder durch Festlegung eines Sets an Methodiken oder gar eines Theoriekanons. Auch das ist fraglos nachvollziehbar, sind doch die Forschungsausrichtungen im medienwissenschaftlichen Feld bekanntlich sehr vielfältig und widerstrebend. Aber das Gegenteil, nämlich die Möglichkeit, Medienwissenschaft als eine ‚wilde Wissenschaft’ zu verstehen, die als unentwegte Avantgarde sich jedweder disziplinären Ordnung verweigert, ist ebenso wenig eine Option, für die sich Filk begeistern kann.11

Aber was bleibt dann noch übrig, wenn man all diese Möglichkeiten, das Freund-Feind-Schema, Identitätsfindung via Gegenstandsbestimmung oder Methodiken, ja selbst die anything goes-Option ausschlägt? Filk schlägt vor, medienwissenschaftliche Forschung als transdisziplinäres Unternehmen zu konturieren. Um diese Perspektivierung auch begrifflich Plausibilität zu verleihen, nimmt Filk zuvorderst eine Begriffsrevision vor: Anstelle des Ausdrucks Medienwissenschaft (obwohl der prominent und damit etwas missverständlich im Titel platziert ist) wird der sehr viel unspezifischere Begriff der Medienforschung gesetzt.12 Medienforschung bezeichnet hier schlicht all diejenigen Forschungsgebiete, die sich primär mit medialen Prozessen auseinandersetzen. Und das kann dann eben Medienwissenschaft, Kommunikationswissenschaft oder auch Mediensoziologie sein. Einen Vorzug dürfte man dieser recht unscharfen Bestimmung kaum absprechen, sie umgeht zumindest begrifflich das gängige Schisma zwischen Medien- und Kommunikationswissenschaft.

Der Vorschlag, Medienforschung als transdisziplinäres Unternehmen zu konzipieren, ist nicht gerade neu (wenngleich Filks Variante gegenüber anderen Vorschlägen eine durchaus beeindruckende Reflexionstiefe bereithält). So forderte beispielsweise der ‚Medienwissenschaftler’ Werner Faulstich eine transdisziplinäre Medienforschung in einer seiner vielen Einführungen schon vor Jahren.13 Auch von ‚kommunikationswissenschaftlicher’ Seite ist solch ein Vorschlag unterbreitet worden.14 Transdisziplinarität bedeutet in all diesen Fällen im Sinne des Wissenschaftstheoretikers Jürgen Mittelstraß so etwas wie ein übergeordnetes „Forschungsprinzip“, das die „Problemwahrnehmungen und Problemlösungen“ leitet, sich aber „nicht in theoretischen Formen“ verfestigt.15 Wie auch immer solch ein ‚Forschungsprinzip’ genau aussehen mag, auf jeden Fall soll es variabel sein und problemorientiert organisiert über fachliche und disziplinäre Grenzen hinausgehen. Kurzum: Forschung soll je nach Problemstellung ausgerichtet werden und damit eben nicht gemäß disziplinärer Logiken operieren. Disziplinäre Gräben werden so je nach Bedarf überwunden und nicht ausgehoben, aber ebenso wenig eingeebnet. So das hehre Ziel der Transdisziplinarität.

Der Mehrwert, den Filks Studie gegenüber vorhergehenden Arbeiten verspricht, die ebenfalls auf Transdisziplinarität setzen, besteht darin, dass eine transdisziplinäre Ausrichtung nicht einfach normativ eingefordert wird, um dann eine vage Zukunftsoption einer solchen kurz zu skizzieren. Vielmehr macht sich Filk in seiner Studie zur Aufgabe, die Forderung nach Transdisziplinarität historisch und prozesslogisch aus der Forschungspraxis selbst abzuleiten. Dabei geht es um nicht weniger als, wie es im Titel recht vollmundig heißt, die Episteme solch einer Medienforschung, also um deren „irreduzibles Set kognitiver Werte und sozialer Praxen“ (S. 25). Um diese zu erkunden, will Filk die „Medienforschung im deutschsprachigen Raum mit dem Schwerpunkt Deutschland seit der Nachkriegszeit aus medien- und kommunikationswissenschaftlicher Sicht“ (S. 336) untersuchen. Genau in diesem Zeitraum sei auch eine signifikante Verschiebung der ‚Episteme’ auszumachen, nämlich eine Verschiebung von den Autonomisierungs- und Abgrenzungsstrategien innerhalb der Medienforschung hin zur Kooperation: Ihren „Ausgang nimmt die Konzeptualisierung bei der [...] Arbeitshypothese, dass sich ab den frühen 1980er Jahren sukzessive eine Medienforschung veränderten Couleur konfiguriert, welche in ihrer Pragmatik und Programmatik hergebrachte disziplinäre Forschungskalküle transzendiert.“ (S. 191; Herv. v. mir, S.G.) Aufgrund dieser ‚Arbeitshypothese’ zieht Filk drei Konsequenzen: eine perspektivische, eine methodische und eine normative. Erstens sei es ratsam, die historische Entwicklung der Medienforschung vor dem Hintergrund ihrer sich gegenwärtig abzeichnenden transdisziplinären Formation (neu) zu perspektivieren. Dafür müsse, zweitens, zuallererst methodisch ein geeignetes Vokabular entwickelt werden, um diese Entwicklung beschreibbar und somit überhaupt erst angemessen verstehbar zu machen. Und drittens soll Medienforschung generell transdisziplinär ausgerichtet werden, da sie nur so zukunftsfähig zu machen sei.

Mit Filks Arbeit soll also, wie am Ende der Studie noch einmal unterstrichen wird, ein „konzeptueller Beitrag zur Beschreibung und Beschreibbarkeit einer multi- bzw. transdisziplinären Medienforschung“ (S. 339) geleistet werden. Dafür wird zunächst sehr ausführlich und elaboriert ein Vokabular entfaltet, das die Grundlage der historischen Untersuchung legt. Dieses Vokabular ist überwiegend der Luhmannschen Systemtheorie entlehnt. Explizit soll diese die „forschungsleitende Heuristik“ (S. 331) darstellen. Mit etlichen Verweisen auf weitere systemtheoretische bzw. konstruktivistisch ausgerichtete Wissenschaftsforschung werden vor allem die systemtheoretischen Basiskonzepte ‚funktionale Ausdifferenzierung’, ‚gesellschaftlicher Selbstbeschreibung’ und ‚strukturelle Kopplung’ aufgegriffen und entfaltet. Damit will Filk auch gleich über den vergleichsweise engen Rahmen der Medienforschung hinausgehend nicht weniger als ein allgemeines Modell für die Beschreibbarkeit von Forschungsgenesen entwickeln. Mit „Hilfe eines Studiendesigns aus Sicht einer integrierten, systemtheoretischen Wissenschaftsforschung“ (S. 27) sollen so bisherige Defizite der Wissenschaftsforschung behoben werden.16

Nachdem das theoretische Vokabular entfaltet ist, wendet sich Filk den historischen Phänomenen zu. Auch hier bleibt der Autor seiner systemtheoretischen Grundlinie treu. Der klassischen systemtheoretischen Medienhistoriografie Luhmanns folgend setzt Filk die zentrale Zäsur für die moderne, ausdifferenzierte Gesellschaft mit dem Buchdruck,17 die er dann entlang von Ausführungen Michael Gieseckes näher beschreibt (vgl. S. 162ff.).18 Damit ist der Buchdruck auch dafür verantwortlich gemacht, dass sich ein ‚System Wissenschaft’ überhaupt erst entfalten konnte. Für die konkrete Beschreibung der funktionalen Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems und deren interner Unterteilungslogik in Disziplinen seit dem 18. Jahrhundert bezieht sich Filk auf einen weiteren maßgeblichen Systemtheoretiker, nämlich Rudolf Stichweh19 Filk überführt und konkretisiert in der Folge Stichwehs Ausführungen anhand der Ausdifferenzierung der Kommunikations- und Medienwissenschaft „mit dem Schwerpunkt Deutschland seit der Nachkriegszeit“ (S. 336).20 In diesem Kontext wird denn auch die zentrale Hypothese der Studie ausbuchstabiert, dass sich in den letzten Dekaden – und damit anlog zum Aufstieg „interaktive[r] und kollaborative[r] Informations- und Kommunikationstechnologien“ (S. 10) wie dem World Wide Web – eine „Umstellung auf ‚transdisziplinäre’ Differenzierung und Evolution“ (S. 336) vollzogen habe:

Doch die gegenwärtigen Evolutionslinien der Medienforschung transzendieren jene spezifische bidisziplinäre Reflexion aus Medien- und Kommunikationswissenschaft. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ‚Medien’, ‚Medialität’, ‚Medienkommunikation’ und ‚Medienmaterialität’ ist seit rund 20 Jahren eben nicht mehr ausschließlich für die medien- und kommunikationswissenschaftliche Community reserviert. Zu wesentlichen Anteilen folgen Neukonstituierungen und Ausdifferenzierungen innerhalb dieser Wissensdomäne einer stabilen Tendenz zur Interdiskursivität. Augenauffällige Indikatoren dafür sind all diejenigen Subdisziplinen mit dem Präfix ‚Medien’ und ‚Kommunikation’, die sich partiell im Laufe der letzten eineinhalb Dekaden ausgebildet haben. (S. 337)

Die ‚Tendenz zur Interdiskursivität’ soll laut Filk zwischen unterschiedlichen Disziplinen/ Fächern bzw. tradierten, bisher klar voneinander unterschiedenen Forschungszusammenhängen stattfinden, somit ebenfalls eine Tendenz zum interdisziplinären Arbeiten anzeigen und sukzessive in ein transdisziplinäres Forschungsdesign münden. Diese Entwicklungslogik wird ausführlich an zwei Beispielen aufgezeigt, erstens am Diskurs über die Medienphilosophie (S. 209-257) und zweitens an dem über die Medieninformatik (S. 259-313). In beiden Fällen macht Filk unterschiedliche Denk- und Forschungstraditionen aus, die hier zusammenkommen, zum einen zwischen Philosophie und Medienwissenschaft, zum andern zwischen „informatorische[n], psychologische[n], organisationswissenschaftliche[n] und betriebswissenschaftliche[n] Konzepte[n] und Paradigme[n]“ (S. 309). Filk bezeichnet diese Zusammenkunft unterschiedlicher Diskurse mit einem Begriff aus seinem systemtheoretischen Theoriedesign als strukturelle Kopplung.21

Im Fall der Medienphilosophie beobachtet Filk eine schwache strukturelle Kopplung zwischen den Diskursen Medienwissenschaft und Philosophie. Das sagt zunächst nichts weiter, als dass die (inter-)diskursiven Verläufe in diesem Feld vielfältig und heterogen sind. Als Zentralfunktion diese Diskurses jedoch macht Filk – und hier wird es dann schon interessanter – eine gegenseitige Befruchtung aus: Medienphilosophie habe „Korrekturpotenzial“ (S. 255); es lasse „sich nach beiden Seiten hin profilieren: als ‚Wiedereinschreibung des Geistes in die Medienwissenschaft’ und als ‚Einführung des Materiell-Technischen in die Philosophie’“ (ebd.). Im Fall der Medieninformatik wiederum führe die Gemengelage unterschiedlicher ‚Konzepte und Paradigmen’ letztlich zu einer starken strukturellen Kopplung – und das heißt zur (auch institutionellen) Etablierung einer Medieninformatik, die per se transdisziplinär ausgerichtet sein soll.

Obwohl in den Fallbeispielen, die Filk vorlegt, die Facetten und Verlaufsformen der (Inter- und Trans-)Diskurse souverän und instruktiv nachgezeichnet werden, lassen sich doch gerade hier einige Bedenken generellerer Natur formulieren. Ihre Schärfe erhalten diese Kritikpunkte insbesondere vor dem Hintergrund der doch recht groß angelegten Ziele der Studie. Fünf problematische Punkte seien im Folgenden benannt:

1. Eine historische Gegenprobe wäre wünschenswert gewesen. Anhand dieser hätte präziser geklärt werden können, ob solche Interdiskurse, wie sie Filk beschreibt, tatsächlich erst ‚seit rund 20 Jahren’ existieren bzw. signifikant sind oder ob sie nicht schon sehr viel früher gang und gebe waren in der Medienforschung, ja die Medienforschung vielleicht sogar historisch aus nichts anderem als aus Interdiskursen besteht.

2. Es ist interessant und – wie ich behaupten möchte – symptomatisch, welche zwei Interdiskurse Filk analysiert. Es sind nämlich zwei Diskussionszusammenhänge, die das basale Schisma zwischen Medien- und Kommunikationswissenschaft gerade nicht tangieren! Vielmehr ließe sich anhand der Filkschen Fallbeispiele behaupten, Medienwissenschaft und Kommunikationswissenschaft suchten sich unterschiedliche Partner, gerade um ihre hegemonialen Ansprüche auszuweiten. Bezeichnenderweise wird im einen Fall ein ‚Wahlverwandter’ in der Geisteswissenschaft gesucht und im andern Fall in naturwissenschaftlichen oder doch naturwissenschaftsaffinen Gefilden. Das Schisma zwischen Medien- und Kommunikationswissenschaft wird damit nicht abgemildert, sondern vergrößert. Das ließe sich zumindest mit einer gewissen Plausibilität aufgrund des Materials, das Filk liefert, gegen Filks Konklusion behaupten.

3. Trotz aller Elaboriertheit der systemtheoretischen Grundlegung einer Wissenschaftsforschung fällt auf, dass Filks Studie doch auch ein wenig an dem krankt, was viele systemtheoretisch fundierte Medienhistoriografien kennzeichnet, nämlich am Problem der angemessenen Integration medientechnischer Entwicklungen. Luhmann selbst entfaltet ja ein recht grobschlächtiges Entwicklungsmodell von Medientechniken, die er mit denjenigen gesellschaftlicher Stadien in Zusammenhang bringt. So heißt es bei ihm: „Die Kommunikationstechniken haben die Welt zumindest zweimal revolutioniert: Durch die Erfindung der Schrift und durch die Erfindung des Buchdrucks.“22 Im ersten Fall soll damit eine segmentäre geordnete Gesellschaft ermöglicht worden sein, im zweiten Fall die moderne, funktional ausdifferenziert Gesellschaft, mitsamt ihren spezifisch modernen Erkenntnisformen und der Etablierung eines Systems Wissenschaft. Eine dritte Zäsur wird noch am Ende des letzten Buches Luhmanns eher dunkel und raunend mit dem aufkommen des vernetzten Computers prognostiziert, die das Potenzial haben könnte, die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft (und damit eben auch deren Erkenntnisweisen) zu ‚revolutionieren’.23 Filk folgt Luhmann in den groben Zügen dieser Mediengeschichtsschreibung. Der Buchdruck ist auch bei Filk die Bedingung für die Etablierung eines Systems Wissenschaft (vgl. S. 162ff.) und die neusten medientechnischen Entwicklungen werden ebenfalls als einschneidend für die Art und Weise der Erkenntnisgenerierung verstanden (vgl. S. 10ff.). Das Problem einer solchen Mediengeschichtsschreibung ist nun nicht (oder doch nicht primär), dass sie fürchterlich grobschlächtig ist. Sehr viel problematischer ist die Unklarheit darüber, wie das Verhältnis von Medientechniken und gesellschaftlichen Prozessen, hier im speziellen der wissenschaftlichen Erkenntnisformen genau zu verstehen ist. Folgt einfach aus der vorherrschenden medialen Konstellation kausal die Art und Weise des Selbstverständnisses? Oder stellt es nur einen recht unbestimmten Möglichkeitshorizont bereit für kommunikative Ausformungen? Sind vielleicht anders herum die entscheidenden Triebfedern für die Entwicklung von Medientechniken die kommunikativen Prozesse? Zwar vergisst Filk nicht anzumerken, dass die medientechnischen Veränderungen „als Moment und Faktor gesellschaftlicher Wandlungsprozesse“ (S. 10; Hervorhebung von mir, S.G.) figurieren. Aber auch hier ist zu fragen: Was heißt es eigentlich, dass Medientechnik ‚Moment und Faktor’ sind? Oder genauer noch: Wie zeigt sich diese Wechselwirkung zwischen ‚Moment und Faktor’ am historischen Material genau? So elaboriert Filk eine systemtheoretische Grundlegung der Wissenschaftsforschung vornimmt, so karg und unscharf bleiben dagegen seine systemtheoretisch fundierten medienhistoriografischen Beschreibungen der Wissen(schaft)sdynamik.

4. Auch fallen die beiden von Filk gewählten exemplarischen Anwendungsbeispiele hinter die theoretische Vorarbeit der Studie zurück. Pointierter formuliert: Die Versuchsanordnung ist um einiges interessanter und elaborierter als die Durchführung des Versuchs selbst. Zwar wird ein komplexes systemtheoretisches Vokabular eingeführt, um Wissenschaftsforschung und deren Dynamiken zu beschreiben. Aber in den Fallbeispielen selbst werden dann nur – recht konventionell – (Inter-)Diskurse analysiert, ohne diese wiederum in einem zweiten Schritt an das zuvor entwickelte Interdependenzmodell zurückzubinden. Zwar wird ein Modell von Wolfgang Krohn und Günter Küppers eingeführt, das diese in ihrer Arbeit Die Selbstorganisation der Wissenschaft vorgestellt haben.24 Damit wollen die Autoren die Interdependenzen und Ausdifferenzierungen von Forschungsprozessen in Form „[s]ystemische[r] ‚Umweltschleifen’“ (S. 340) abbilden. Dieses Modell zur Beschreibung von Wechselbeziehungen wird in Filks Arbeit zwar eingeführt, aber eben nicht konsequent auf die beiden Fallbeispiele der Studie angewendet.

5. Dementsprechend blass fällt das Plädoyer für die Transdisziplinarität aus: Es wird nämlich durch die Vagheit der Fallstudien nicht genau klar, warum transdisziplinäres Forschen strukturlogisch das Gebot der Stunde ist. Überdies müsste im Plädoyer für die transdisziplinäre Medienforschung noch plausibler gemacht werden, warum die Medienwissenschaften auf Teufel komm raus transdisziplinär arbeiten müssen. Denn selbst wenn diese Tendenz als eine strukturlogische nachgewiesen wäre, folgt doch daraus immer noch nicht, dass man dieser folgen muss oder sollte. Vielleicht ist ja gerade Abschottung das strategische Gebot der Stunde oder vielleicht fährt man besser als ‚wilde Wissenschaft’, die sich weder um Disziplinarität noch um Inter- oder Transdisziplinarität schert. Solche Gegenpositionen sind vielleicht nicht gerade besonders überzeugend, wahrscheinlich unhaltbar. Filk versäumt es aber, solche Zweifel und Gegenvorstellungen konsequent genug anhand seiner wissenschaftshistorischen Fallbeispiele zu entkräften.

Die systemtheoretische Studie Episteme der Medienwissenschaft schließt salomonisch. Im letzten Abschnitt wird darin ein bekannter Satz aus Ludwig Wittgensteins Philosophische Untersuchungen zitiert, der besagt, dass nicht die eine Methode der Philosophie gebe; statt dessen ständen nur „verschiedene Therapien“25 zur Verfügung. Auch vorliegende Rezension soll salomonisch beschlossen werden, indem diese Metapher der Therapie aufgegriffen wird: Filk liefert vielleicht mit seiner Studie nicht die Therapie, nach der wir, die ‚Medienforscher’, nun wüssten, wer wir sind, geschweige denn wie viele. Vielmehr stellt Filks Studie, die noch in ihrer Variante als Dissertation passenderweise als „Vorstudie“26 bezeichnet wird, ein sehr elaboriertes therapeutisches Vorgespräch dar. Die eigentliche Therapie ist sie hingegen noch nicht. Und wie im echten Leben sollte man sich noch nach anderen Therapiemöglichkeiten umschauen und sorgfältig abwägen, ob man zu Dr. Filks Methode zurückkehren möchte. Allerdings, überhaupt sich Gedanken über geeignete Therapiemöglichkeiten zu machen und nicht nur in neurotischen Selbstbefragungen vor dem Hintergrund des immer gleichen Freund-Feind-Schemas stecken zu bleiben, dies leistet die Studie Filks allemal. Und das ist beileibe kein geringer therapeutischer Verdienst.

März 2010

  • 1Um es mit dem Titel eines der erfolgreichsten populärwissenschaftlichen Büchern der letzten Jahre zu pointieren – siehe: Richard David Precht, Wer bin ich und wenn ja, wie viele?, München (Goldmann) 2007.
  • 2Siehe dazu den Stein des Anstoßes: Geoffrey Winthrop-Young, Von gelobten und verfluchten Medienländern, Kanadischer Gesprächsvorschlag zu einem deutschen Theoriephänomen (samt Repliken von Friedrich Balke, Rüdiger Campe, Helmut Lethen, Ludwig Pfeiffer und einem Schlusswort von Geoffrey Winthrop-Young), in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2, 2008, 113-152. Online zugänglich unter: medienumbrueche.uni-siegen.de/groups/medienwissenschaften/weblog/fe17f/attachments/ed237/Zeitschrift%20für%20Kulturwissenschaften%202-2008-2.pdf (gesehen am 02.12.09). Vgl. dazu kommentierend: Claudia Breger, Zur Debatte um den ‚Sonderweg deutscher Medienwissenschaft’, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, 1, 2009, 124-127.
  • 3Siehe: Kernbereiche der Medienwissenschaft Ein Strategiepapier der Gesellschaft für Medienwissenschaft. Online abrufbar unter: www.gfmedienwissenschaft.de/gfm/webcontent/files/GfM_MedWissKernbereiche2.pdf (dort datiert 03.11.08; gesehen am 02.12.09)
  • 4Siehe: Selbstverständnispapier der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK), Online abrufbar unter: www.dgpuk.de/index.cfm?id=3376 (dort datiert 01.05.08; gesehen am 09.12.09).
  • 5Siehe zur Selbstbeschreibung der Zeitschrift für Medienwissenschaft (zfm): www.zfmedienwissenschaft.de/index.php (gesehen am 02.12.09); siehe zur Selbstverortung der Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK) das Editorial von Lorenz Engell und Bernhard Siegert in deren ersten Ausgabe – auch Online zugänglich unter: ikkmweimar.de/publikationen/zeitschrift/editorial_01/prm/206/ses_id__4308165081f23c471f36608e3e2c3a1e/cs__11/index.html (gesehen am 09.12.09).
  • 6Vgl. zu den wissenschaftspolitischen Zwängen zur Identitätsfindung auch die Einschätzung und Vorgaben des Wissenschaftsrates: Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland. Drucksache 7901-07, Oldenburg, 25.5.2007, Online zugänglich unter: www.wissenschaftsrat.de/texte/7901-07.pdf, (gesehen am 02.12.2009).
  • 7Siehe zur Reflexion und Kritik dieser Gegenüberstellungen bereits: Gudrun Schäfer, „Sie stehen Rücken an Rücken und schauen in unterschiedliche Richtungen“. Zum Verhältnis zwischen Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Medienwissenschaft, in: Heinz-B. Heller u.a (Hg.), Über Bilder Sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft, Marburg (Schüren) 2000, 23-34.
  • 8Prominent besetzt ist diese Position durch Friedrich Kittler – vgl. bspw.: Aufschreibesysteme 1800/1900, München (Fink) 1995, 520.
  • 9Jochen Hörisch, Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien, Frankfurt/M. (Eichborn) 2001, 17.
  • 10Siehe bspw.: Selbstverständnispapier der DGPuK.
  • 11Siehe dazu beispielsweise sehr pointiert die Aussage Bernhard Dotzlers, der wortspielerisch formuliert: „Es ist gerade das Tolle an dem Fach [der Medienwissenschaft, S.G.], dass es so toll ist.“ (Rudolf Maresch, „Medienwissenschaft ist eine sichtbar machende Wissenschaft“. Ein Gespräch mit dem Medien- und Literaturwissenschaftler Bernhard Dotzler über die Dynamik des Fachs, seine Probleme und den Hype, der mit ihrem Modischwerden entstanden ist, in: telepolis, 21.11.2005, www.heise.de/tp/r4/artikel/21/21366/1.html [gesehen am 04.12.09]. Zu den Implikationen des Begriffs ‚wilde Wissenschaft’ und der Kritik der Medienwissenschaft als wilder Wissenschaft siehe: Stephan Porombka, Nach den Medien ist in den Medien. Einige Bemerkungen zur aktuellen Medienwissenschaft, in: Zeitschrift für Germanistik XIII, 2, 2003, 350-356.
  • 12Womit sich Filk an eine Beschreibung dieses Forschungsfeldes anschließt, die Siegfried J. Schmidt vor knapp 15 Jahren bereits vorgeschlagen hat – bspw. in: Die Welten der Medien. Grundlagen und Perspektiven der Medienbeobachtung, Braunschweig, Wiesbaden 1996.
  • 13Siehe: Werner Faulstich, Einführung in die Medienwissenschaft, München (Fink) 2002, 70ff.
  • 14Siehe: Rudolf Stöber, Kommunikations- und Medienwissenschaft. Eine Einführung, München (Beck) 2008, 10ff.
  • 15Jürgen Mittelstraß, Transdisziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit, Konstanz (Universitätsverlag) 2003, 11; zitiert bei Filk: 23.
  • 16Deren maßgebliche Modelle Filk von Rudolf Carnap über Karl Popper und Thomas S. Kuhn bis hin zur Akteur-Netzwerk-Theorie im zweiten Kapitel seiner Studie kritisch diskutiert (S. 43-121). Als Hauptdefizit der bisherigen Ansätze macht Filk aus, dass dort die wissenschaftlichen Entwicklungen entweder als ausschließlich fremd- oder als ausschließlich selbstreguliert verstanden worden seien. Im Anschluss an Wolfgang Krohns und Günter Kuppers’ Beschreibung der Selbstorganisation der Wissenschaft argumentiert Filk, dass ein systemtheoretischer Zugang es erlaubt, diese Entweder-Oder-Option zu umgehen. Soll es doch dieser Zugang erlauben, Wissenschaft als sich selbstorganisierendes System zu behandeln und gleichzeitig, da dieses System vielerlei strukturelle Kopplungen mit anderen Systemen eingeht, als fremdgesteuertes und also von Außen irritierbares System zu verstehen.
  • 17Vgl. bspw. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1999, 291ff.
  • 18Vgl. vor allem Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1991.
  • 19Vgl. Rudolf Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1984.
  • 20Leider wird diese Geschichte der Ausdifferenzierung auf knapp zehn Seiten verdichtet dargestellt (S. 179-189). Hier wäre eine ausführlichere und präzisere Darstellung wünschenswert gewesen. Denn genau eine solche vergleichende Darstellung hätte die Differenzen, Ähnlichkeiten und die Entwicklungslogik der Forschungszusammenhänge der Medien- und Kommunikationswissenschaft(en) genauer aufzeigen können als das gängige Gegenüberstellungen machen. So bleibt aber auch Filks Rekonstruktion an einer entscheidenden Stelle leider ebenfalls zu holzschnittartig.
  • 21Der Begriff der strukturellen Kopplung passt im Übrigen wunderbar zur Idee der Transdisziplinarität. (Und ist damit auch ein Beispiel dafür, wie überaus geschickt Filk systemtheoretisches Vokabular aufnimmt und seinen Zwecken gemäß neu justiert). Folgt man Jürgen Mittelstraß, dann führt transdisziplinäre Forschung nicht zur Auflösung disziplinäre Selbstständigkeit, sie führt aber durchaus zu einem neuen Problembewusstsein in den beteiligten Fächern, ja wird geradezu zum Motor derselben (und kann überdies zu neuen Disziplingründungen führen). Genau dies ist ein Mechanismus, der mit der strukturellen Kopplung sehr viel universeller und abstrakter mit Bezug auf autopoetisch operierende Systeme formuliert wird. Siehe bspw. folgende Beschreibung der strukturellen Kopplung bei Luhmann (siehe bspw.: Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, 101f.)
  • 22Niklas Luhmann, Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie, in. Hans Ulrich Gumbrecht / Ursula Link-Heer (Hg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachgeschichte. Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1984, 11-33, hier 20f.
  • 23Siehe dazu: Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 310ff.; siehe zu dieser dritten Zäsur ausführlicher: Dirk Baecker, Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt/ Main (Suhrkamp) 2007
  • 24Wolfgang Krohn, Günter Kuppers, Die Selbstorganisation der Wissenschaft, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1989, 125.
  • 25Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Hg. v. Gertrude E. Anscombe, Georg H. v. Wright u. Rush Rhees), Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 41988, §133, 305; zitiert bei Filk: 342.
  • 26Genauer Titel der Dissertation: Zur Logik der Medienforschung – Grundlegung und Vorstudien zu einer systemtheoretischen Wissenschaftsforschung, Kassel 2006. Um nur auf eine andere therapeutische Möglichkeit hinzuweisen: Wenn es doch um transdisziplinäre Vermischungen geht und wenn es darüber hinaus, gerade in diesem Feld, immer auch um die Durchsetzung von Definitionsmacht geht und wenn schließlich, Medientechnik und Semantik interdependent sein sollen, wovon Filk ausgeht,, wenn man es also auf unterschiedlichen Ebenen mit Hybridphänomenen zu tun hat – dann läge es meines Erachtens sehr nahe, den Ansatz der Akteur-Netzwerk-Theorie, den Filk im Übrigen sträflich verkürzt auf knapp drei Seiten darstellt und kritisiert (S. 115-117), vielleicht gegenüber einem rein systemtheoretischen Zuschnitt zu präferieren. (Aber freilich: Der mäkelnde, besserwisserische Rezensent hat es leicht, insofern er das nicht selbst umsetzen muss, was er fordert.)

Bevorzugte Zitationsweise

Grampp, Sven: ‹Wer bin ich und wenn ja, wie viele?› Ein Therapievorschlag für die Medienwissenschaft/en. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Onlinebesprechung, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/wer-bin-ich-und-wenn-ja-wie-viele-ein-therapievorschlag-fuer-die-medienwissenschaften.

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