© Miklós Kiss
Was hat es mit dem ‹Akademischen› in der videografischen Forschung auf sich?
Zweifellos kann es schwierig sein zu definieren, was videografische Forschung oder Kritik ist oder sein kann, aber haben Sie jemals darüber nachgedacht, was eine akademisch gültige Form der videografischen Forschung ausmacht? Ich habe tatsächlich mehrmals versucht, zu umreißen, was ein ‹wissenschaftlich solides Video› ist, u.a. in einem kuratorischen Statement, das den ‹audiovisuellen Forschungsessay›1 beschreibt, einem gemeinsam verfassten Multimedia-E-Book, das das ‹akademische Forschungsvideo› erklärt2, und zweier Ausgaben von NECSUS, in denen Videomacher*innen aufgefordert wurden, erklärende, argumentative audiovisuelle Essays zu produzieren.3 Mein bester oder vielleicht auch naivster Versuch wurde in The Cine-Files veröffentlicht, wo ich der Aufforderung der Zeitschrift – «Wie kann man videografische Forschung als gültigen wissenschaftlichen Ausdruck legitimieren?»– in meinem Seminar «Arts in Practice: Videographic Criticism» an der Universität von Groningen nachging und darüber berichtete.4
Um weiteren Ärger zu vermeiden, werde ich diesen (vielleicht aussichtslosen) Weg der ‹akademischer Solidität› und ihrer Definition nicht weiter beschreiten. Stattdessen trete ich einen Schritt zurück und stelle die Frage anders: Was hat es mit dem ‹Akademischen› in der videografischen Forschung auf sich? Und welche pädagogischen Implikationen könnten die Antworten auf diese Frage haben? Die Formulierung ‹Was hat es damit auf sich› führt leicht zu der Frage ‹Was ist falsch daran?› und möglicherweise ‹Was steht dabei auf dem Spiel?›. Dies sind genau die Fragen und ihre Auswirkungen, die ich in diesem Artikel behandeln möchte. Meine Bemühungen beschränken sich darauf, diese Fragen zu ‹behandeln›, anstatt eine Lösung zu finden. Tatsächlich wird der Versuch, die Frage des Titels zu beantworten, nur zu weiteren Nachforschungen führen.
Was hat es mit der akademischen Validierung auf sich?
Warum ist die Bezeichnung ‹akademisch› überhaupt wichtig? Was hat sie zu bieten? Welchen Wert hat sie? Einerseits könnte ‹akademisch› einen spezialisierten, aber flexiblen Diskurs bezeichnen, der von Experten verschiedener Disziplinen geführt wird – ähnlich wie akademische Zeitschriften, Plattformen und ihre videografischen Veröffentlichungen den Begriff in ihren ‹About› [‹Über uns›]-Abschnitten verwenden (siehe z. B. Abbildung 1)? Könnte dieser Diskurs möglicherweise ein Qualitätsstandard sein? Ein Versprechen auf eindeutige Verständlichkeit durch klare, gut strukturierte, prägnante und fokussierte Ausdrucksweise, die das Produzieren neuen Wissens und eine objektive Bewertung ermöglicht, wobei sich die Objektivität also nicht auf den Inhalt des Videos, sondern auf die Zugänglichkeit und Beurteilbarkeit seiner Vermittlung bezieht? Oder könnte das Etikett ‹akademisch› andererseits als unproduktive Einschränkung gesehen und erlebt werden, die zu einem allzu formalen, unpersönlichen und, selbst wenn es persönlicher wird, autoritären Format führt? Etwas, das die Phantasie und Kreativität einschränkt? Eine altmodische Limitierung, die möglicherweise durch eine ‹ontologisch neue wissenschaftliche Form› angegriffen werden könnte?5 Das Zitat von David Lynch, demnach «[w]ir glauben, dass wir die Spielregeln zu verstehen lernen, wenn wir erwachsen werden, aber in Wahrheit erleben wir eine Verengung der Vorstellungskraft»6, scheint für diesen ‹anti-akademischen› Standpunkt gegenüber dem Einfallsreichtum angemessen zu sein.
Was hat es mit dem ‹Akademischen› in der akademischen Literatur auf sich, vorausgesetzt, eine solche Nische existiert überhaupt (noch)? Welche Erkenntnisse lassen sich aus dem Begriff ‹akademisch› für wissenschaftliches Schreiben ableiten? Gibt es Unterschiede zwischen dem Wert (nicht der Form) des ‹akademischen Schreibens› und des ‹akademischen Videoessays› oder des ‹wissenschaftlich soliden Videos›, und wenn ja, welche? Obwohl viele Videomacher*innen der Meinung sind, dass es einen grundlegenden Unterschied gibt, wird die Ausarbeitung dieses Unterschieds noch zu wenig reflektiert und ist daher, zumindest in der Praxis, noch nicht eindeutig. Mir scheint, dass die Frage ein viel größeres Problem der ‹akademisch gültigen› wissenschaftlichen Sprache in der Geschichte der textbasierten Film- und Medienwissenschaft aufdeckt, das durch die jüngste Welle der audiovisuellen Wissenschaft nur (buchstäblich) ‹sichtbar› gemacht wird. «Glücklicherweise», so habe ich bereits gesagt, «gibt es nicht eine alleingültige Liste von Kriterien, die das wissenschaftliche Schreiben über Film und andere audiovisuelle Medien anleiten. Die Vielfalt der videografischen Werke und die immer wiederkehrenden Diskussionen über ihre wissenschaftliche Legitimität spiegeln im Grunde nur die Vielfalt in unserer akademischen Gemeinschaft in Bezug auf bereits gültige und wertvolle akademische Ausdrucksformen wider».7 Aber bedeutet diese Ein- und Nachsicht, dass letztendlich alles erlaubt ist? Wenn wir nicht in der Lage oder nicht willens sind, uns zumindest auf eine weit gefasste Definition von akademischer Solidität zu einigen, sollten wir dann beispielsweise ein Gedicht als akademische Leistung betrachten? Wäre es akzeptabel (für Ihre Vorgesetzten und direkten Vorgesetzten), dies in Ihr Dossier zur Festanstellung bzw. im Tenure Track aufzunehmen? Oder sollten nur Gedichte als akademischer Ertrag gelten, die sich auf originale Kunstwerke stützen – auf ihnen aufbauen oder über sie reflektieren – und so möglicherweise einen Diskurs unter Kunstwissenschaftler*innen anregen? Wie steht es also um poetische und experimentelle Videos, die sich von audiovisuellen Originalwerken inspirieren lassen und über diese reflektieren und die (potenziell) in der Lage sind, wissenschaftliche Überlegungen anzuregen – in Form von Einladungen zur Projektion von diversen Gedanken und Assoziationen -, anstatt Kritik zu üben oder eindeutig für eine bestimmte Erkenntnis zu argumentieren? Sollte eine künstlerische Darstellung von (nur hypothetisch entstehenden und potenziell vielfältigen, wenn nicht gar divergierenden) Gedanken als akademische Leistung angesehen werden? Kann das Aufwerfen von inspirierenden Fragen eine wissenschaftliche Alternative zum Liefern von Antworten als wissenschaftliches Endprodukt sein? Und wenn das der Fall ist, was ist, wenn sich eine solche Absicht (nicht die des Videoessays, sondern eher die Idee eines solchen nachsichtigen Anspruchs) den Betrachtenden entzieht? Was ist dann der Unterschied zwischen textbasierten Gedichten und audiovisuellen Gedichten in einem akademischen Kontext? Sollte sich die Wissenschaft in der Kunst manifestieren? Nicht durch ihre Praxis (wie in der künstlerischen Forschung, die als Teil der Methode originäre Kunst produziert), sondern eher durch ihr Endprodukt, durch das sie kommuniziert? Sollten Inspiration, Provokation, Infragestellung und Mehrdeutigkeit als gültige Formen der akademischen Kommunikation und Bildung Klarheit, Erhellung und eindeutige Argumentation ersetzen oder zumindest ergänzen? Kann und sollte Wissenschaft sowohl «forschungsbasierte Kunst»8 als auch «kunstbasierte Forschung»9 sein?
Die Verhandlung des Verhältnisses zwischen textbasierten und audiovisuellen Äußerungen innerhalb der videografischen Forschung ist ein weiterer entscheidender Aspekt im Hinblick auf den ‹akademischen› Diskurs. Zuvor habe ich das autonome Kriterium für Videoessays – wonach sie unabhängig, eigenständig und in sich geschlossen funktionieren (präsentieren, beweisen und argumentieren) müssen, ohne jegliche schriftliche Ergänzung zu benötigen – als eine Möglichkeit definiert, durch die man sie als «wirklich audiovisuelle audiovisuelle Werke» bezeichnen kann.10 Nicht, dass ich den einzig richtigen Weg eines wissenschaftlichen Videoessays vorschreiben wollte. Ich habe mich nur über die Behauptungen anderer gewundert und sie sogar gerechtfertigt, wonach die Videografie eine neuartige, wenn nicht gar völlig und ontologisch neue Form der wissenschaftlichen Kommunikation ist. Ich dachte, vielleicht zu impulsiv, dass einer der Hauptunterschiede zwischen schriftlichen Aufsätzen und Videoessays in einer medialen Wende liegt: «Die Auslagerung der Argumentation in den schriftlichen Begleittext», so schlussfolgerte ich, «scheint oft auf ein mangelndes Vertrauen in das videografische Format hinzuweisen. In diesen Fällen kon-textualisiert der Begleittext die audiovisuellen Werke nicht, sondern re-textualisiert sie oft, wodurch ihr Status wieder zu einer erweiterten Version einer traditionellen Text-Illustration wird».11 Was ich in der Theorie bereits für wahr hielt und was ich in meiner Pädagogik als effektiv empfunden hatte, wird von Katie Bird und ihrer Praxis des Betrachtens von Videos weiter bestätigt. Ich kopiere hier ihren Tweet (Abbildung 2), nicht unbedingt, um meine Behauptungen zu untermauern, sondern vor allem, weil sie, insbesondere in ihrem zweiten Beitrag, meinen Punkt über die Rekontextualisierung auf den hiermit relevanten Aspekt der wissenschaftlichen Validierung ausweitet (d. h. auf die wiederkehrende Notwendigkeit und den eifrigen Versuch, Videos zu «verwissenschaftlichen»): «Das hier IST Wissenschaft, seht ihr!!»12
Was ist falsch am akademischen Label?
Für einige sind nicht nur die Antworten unbefriedigend, sondern ist sogar die ursprüngliche Frage – ‹was macht videografische Forschung akademisch gültig?› – grundlegend falsch. Diese Videoessayist*innen und/oder -Theoretiker*innen, die hauptsächlich in akademischen Institutionen arbeiten, betrachten solche Definitionsversuche als Einschränkung ihrer Fantasie und Kreativität. Sie beschreiben und praktizieren die Videografie gerade als Mittel, um sich von willkürlichen und damit schädlichen Zwängen zu befreien, wobei sie ihre videografischen Basteleien oft ausdrücklich als bewussten Akt des Widerstands gegen ‹traditionelle akademische Werte› auffassen und gestalten. In der Tat stellen sie etablierte Methoden in Frage oder vernachlässigen sie einfach und setzen sich über kritische Absichten hinweg. Angetrieben von der Aussicht, zu unerwarteten, wenn auch nicht gänzlich aus dem (akademischen) Rahmen fallenden Enthüllungen und Ergebnissen zu gelangen, lassen sie sich auf das Subjektive, Mehrdeutige und Experimentelle in der Wissensproduktion ein. Einige verzögern absichtlich, während andere es völlig aufgeben, einen Sinn oder eine Bedeutung zu finden, und lediglich die entfesselte Kreativität und den Verfremdungseffekt schätzen, den ihre unregulierten und manchmal sogar unkontrollierten Basteleien auslösen. Diese Wissenschaftler*innen behaupten, dass deformative Arbeiten mehr sind als nur ein Stück Videokunst oder eine Aufzeichnung ihrer experimentellen Methodik. Vielmehr sehen sie es als eine ‹Provokation› an, die das vorliegende Werk ‹öffnet› und neu entdeckte Vorteile sowohl für den/die Schöpfer*in (Deformation um der Deformation willen, ohne Rücksicht darauf, etwas Neues über die ursprüngliche deformierte Kunst zu lernen, à la Mark Sample13) als auch für den/die Betrachter*in (im Sinne einer Deautomatisierung, d. h. des Verlernens des gewohnten Blicks auf die ursprüngliche Kunst, wie in Ariel Avissars Video von 2023, das Reaktionen zu Catherine Grants deformativem Werk von 2018 sammelte). Es handelt sich um Videografie ohne eine explizite und klare kritische Intention, bei der dieser kritische Akt an die Betrachter*innen ausgelagert wird (die hauptsächlich Wissenschaftler*innen sind, wie in diesem speziellen Fall von Avissars Meta-Video). Erfordert also eine ‹akademische Abhandlung› sowohl eine eindeutige und begründete Sinngebung als auch eine explizite und klare kritische Absicht? Wie dieses und andere Beispiele zeigen, ist das nicht mehr unbedingt der Fall: Ian Garwoods Studie14 darüber, wie Videoessayist*innen ihre Arbeiten durch Begleittexte in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift [in]Transition gestalten, kommt zu dem Schluss, dass Mehrdeutigkeit in der videografischen Wissenschaft zunehmend positiv betrachtet wird. Das Ziel der Mehrdeutigkeit in poetischen und experimentellen Bemühungen besteht nicht nur darin, die Videos für verschiedene Interpretationen zu öffnen, sondern auch darin, sie für eine Vielzahl von möglichen Bedeutungen offen zu halten. Diese ‹Offenheit› wird oft mit der ‹Geschlossenheit› von Erklärungen in einer Weise kontrastiert, die falsch sein kann, weil sie letzteren einen gewissen Grad an ‹Endgültigkeit› zuschreibt. In sich geschlossene Erklärungen erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern beziehen sich auf eindeutige, unmissverständliche und abgerundete Argumente, die nicht den Anspruch erheben, das ‹letzte Wort›, sondern nur ein ‹klares Wort› zu einem bestimmten Thema zu sein. Aber, wie ich bereits versprochen habe, geht es in diesem Text nicht darum, die Inhalte und Formen des ‹Akademischen› zu bestimmen und außerdem «ist es schwierig, ein Argument vorzubringen, das offene Experimente und intellektuelle Freiheit herauszufordern scheint und nicht wie ein Anti-Intellektueller klingt».15
Stattdessen ist es besser, die Frage umzuformulieren: ‹Was ist falsch an der Bezeichnung «akademisch», insbesondere innerhalb der akademischen Welt?› Warum wehren wir uns überhaupt gegen die Bezeichnung ‹akademisch› und warum oft so hartnäckig? Liegt es daran, dass wir uns – aus welchen zeitgeistigen Gründen auch immer – typischerweise gegen das traditionelle Denken über die akademische Welt und ihre konventionellen Werte wehren, wie sie uns heute erscheinen? Weil wir den Eindruck haben, dass die akademische Welt aufgrund von Top-Down-Management, aufgeblähter Verwaltung und immer wiederkehrenden Haushaltskürzungen und Umstrukturierungen immer feindseliger und giftiger wird? Wenn dies der Fall ist, dann scheint der Widerstand gegen den/die ‹Akademiker*in› durch videografische Kritik weniger eine bewusste Strategie als vielmehr ein Zufall zu sein, der sich mit einigen dieser aktuellen Stimmungsumschwünge deckt. Oder könnte es sein, dass gerade die videografische Forschung, zumindest durch ihren begrenzten Einfluss innerhalb ihres Nischenbereichs der Film- und Medienwissenschaft, den Protest gegen konservative Ansichten über die Wissenschaft unterstützt, vielleicht sogar auslöst? Es mag nur entfernt relevant klingen, aber ich denke, dieses Argument hat seine Wurzeln in einigen unterschwelligen Behauptungen, zum Beispiel der, dass das audiovisuelle Medium im Vergleich zu seinem schriftlichen Gegenstück eine inhärent höhere Performativität vorweist. In dem Maße, in dem besonders performative und kreative Stimmen gefördert werden, könnten sich unsere Überzeugungen und Standards für aKademisches Verhalten durch die Akzeptanz solcher medienspezifischen Unterschiede verändern. Oder ist der Widerstand gegen den ‹akademischen Modus› nur ein Teil der Bemühungen, zwischen textuellen und videografischen Formen der Wissenschaft zu unterscheiden? Wie zahlreiche Beispiele zeigen, scheint es so zu sein, dass wir uns beim akademischen Schreiben zwar um etablierte wissenschaftliche Prinzipien kümmern und diese aufrechterhalten, bei der Videokritik jedoch bereit sind, diese Werte zu verwerfen. Ich sehe viele angesehene akademische Autoren, die, wenn sie sich mit Videokritik befassen, ihre gut etablierten und in ihrem Schreiben gut eingeübten wissenschaftlichen Standards gerne aufgeben. Als ob die Möglichkeit, über eine audiovisuelle Kunst audiovisuell sprechen zu können, endlich mehr böte, als nur die mediale Kluft zwischen einer audiovisuellen Kunst und ihrer textuellen Wissenschaft zu überbrücken; als ob die videografische Forschung sich als widerspenstige Fahnenträgerin gegen die ‹normale Wissenschaft› präsentieren würde16, d.h. als eine technologie- und mediengetriebene Möglichkeit, einen grundlegenden Wandel – einen ‹Paradigmenwechsel›17 – in und über die Wissenschaft anzustoßen.
Was setzt das ‹Akademische› auf’s Spiel?
In Anlehnung an Abraham Flexners18 berühmtem anti-utilitaristischem Utilitarismus – ‹die Nützlichkeit von nutzlosem Wissen› – liegt das wissenschaftliche Versprechen von deformativen Aktivitäten in der Nützlichkeit von nutzloser Bastelei. Dieses gar nicht so latente Paradoxon scheint auf den offen geäußerten Kampf der Wissenschaftler*innen gegen ihre eigenen wissenschaftlichen Routinen hinzuweisen. Dieser Kampf ist meiner Meinung nach – und das mag hart oder sogar zu offensichtlich klingen – symptomatisch für ein größeres Bedürfnis nach ‹Neuheit›, das ein typischer Drang der neoliberalen akademischen Welt und ihrer von den sozialen Medien angetriebenen Selbstpositionierung ist. Neuheit bringt die Hoffnung mit sich, in der Kakophonie der reichlich produzierten und lautstark beworbenen videografischen Wissenschaft herauszustechen (es ist bemerkenswert, wie schnell sich die videografische Kritik von ihren frühen Jahren garantierter Sichtbarkeit, dem «Herausstechen aus dem Meer der ... textuellen Wissensproduktion»19, zu ihrer gegenwärtigen Fülle entwickelt hat, die immer neuere Formen der Neuheits- und Aufmerksamkeitssuche auslöst). Während Kevin B. Lee von «Überproduktionsmüdigkeit»20 spricht, bekräftigt Johannes Binotto, dass «die Problematik der akademischen Welt und des Arbeitsmarktes einen geradezu dazu zwingt, experimentell zu sein und etwas Neues auszuprobieren».21 Es scheint, als ob die Verleugnung traditioneller akademischer Praktiken und Normen eine Aussicht auf Erfolg in der Wissenschaft birgt, was, wenn wir schon von Einsätzen sprechen, sicherlich das Hauptziel vieler ambitionierter Wissenschaftler*innen ist. Stimmt es, dass das Streben nach Neuem durch den Widerstand gegen eine auferlegte wissenschaftliche Tradition jemanden im akademischen Kontext in eine ‹verletzliche› Position bringt, wie Evelyn Kreutzer und Johannes Binotto nachdenklich feststellen?22 Oder ist die Verwundbarkeit, die sich aus dieser Haltung ergibt, eigentlich ein ‹Privileg› – das Privileg, frei von jeglichen Zwängen und wissenschaftlicher Haftung experimentieren zu können? Ein Aspekt, der auch Kreutzer und Binotto bewusst ist: «Inwieweit ist unser Mut zur Verletzlichkeit vielleicht auch eine Flucht vor der akademischen Rechenschaftspflicht?» und «[i]ch kann es mir leisten, mich verletzlich zu zeigen, weil ich nicht existenziell bedroht bin...».23 Selbst wenn es eine Verletzlichkeit gibt, die sich in der Selbstentblößung der Intimitäten der eigenen Subjektivität manifestiert, sollten wir das nicht als Folge einer freien, wenn nicht gar strategischen Entscheidung von jemandem betrachten, der hofft, nun ja, eben genau in jener Wissenschaft erfolgreich zu sein? In dieser Hinsicht sympathisiere ich sehr mit der Aufrichtigkeit von Alan O'Leary, der den Elitismus einer solchen Verletzlichkeit einräumt: «Lassen Sie es mich klar sagen: Ich spreche hier von einer elitären Praxis (...) Elitär auch in dem Sinne, dass ich eine Praxis beschreibe, die denjenigen zusteht, die über die institutionelle Sicherheit verfügen, durch Überschreitung die überkommenen Formen der wissenschaftlichen Forschung zu testen».24
Es mag eine Frage der mutigen Verletzlichkeit oder des elitären Privilegs (oder beides) sein, aber ich kann jede Bemühung, die es wagt, verfestigte intellektuelle Positionen in Frage zu stellen und wissenschaftliche Routinen zu hinterfragen, nur befürworten, wenn sie zu einem nachvollziehbaren Ergebnis führt. Hinterfragen um des Hinterfragens willen ist noch keine Methode, weil es zu unverständlichem und sinnlosem Unsinn führen könnte. In letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass akademische Werte und ihre Endprodukte wie ‹Sinnhaftigkeit› und ‹Bedeutung›, vor allem in ihren explizit und klar geäußerten ‹erklärenden› Formen, unter den Verdacht geraten, ein zwielichtiges Überbleibsel der (autoritären und belehrenden) ‹normalen Wissenschaft› zu sein, in diesem Fall das ‹Man-› oder ‹Videosplaining›. Didaktik ist heute verpönt oder wird, wie Susan Harewood bemerkt, mit Misstrauen behandelt.25 Dieses Gefühl äußert sich nicht nur als Kritik an den angeblich unkritischen Annahmen der nicht-akademischen Videograf*innen, sondern richtet sich auch gegen die Wissenschaftler*innen, die ihren kritischen Ansichten folgen. Bemerkenswerterweise werden diese beiden Bedenken gerade von Wissenschaftler*innen geäußert. Was Ersteres betrifft, so erinnere ich mich an eine kürzliche Diskussion auf dem Discord-Kanal von Videografischen Forscher*innen gegen The Nerdwriter, einen der beliebtesten nicht-akademischen YouTube-Stars. Die Menge an Kritik, die ich für meine Vorliebe für ‹erklärende, argumentative› Videoprojekte und deren Beharren auf ‹Klarheit› erhalte, ist für Letzteres bezeichnend. Als ob Nicht-Wissenschaftler*innen nicht wissenschaftlich genug wären, während Wissenschaftler*innen für manche ihrer Kolleg*innen zu wissenschaftlich sind. Wie dem auch sei, ich frage mich zusammen mit Harewood «manchmal, ob die bewusste Einbeziehung von ‹Gelehrsamkeit› in die Bezeichnung des videografischen Essays darauf zurückzuführen ist, dass Medien- und Filmwissenschaftler*innen sich Sorgen machen, dass sie viel von sich selbst in den dekonstruktiven Lesepraktiken der Fans und Geeks auf YouTube sehen».26
Seien Sie versichert, dass ich für Mehrdeutigkeit und Ungewissheit in der Kunst eintrete. Ich habe sogar Bücher über ‹rätselhafte Filme› geschrieben und herausgegeben, die genau um solche Konzepte kreisen. Außerdem bin ich sehr dafür, bei den Methoden, die ich in meiner textbasierten und audiovisuellen Forschung verwende, auf Klarheit und akademische Strenge zu verzichten. Wenn es jedoch darum geht, die Ergebnisse einer solchen Forschung zu kommunizieren, sei es über mehrdeutige Kunst oder über unorthodoxe Forschungsarbeiten, kann ich nur Vernunft und Klarheit erwarten. Was mir zum Beispiel am Genre der Desktop-Dokumentation besonders gefällt, ist die nahtlose, wenn auch nicht garantierte, klare und transparente Darstellung der durchgeführten Methodik im Ergebnis - unabhängig davon, ob das Ergebnis die Bestätigung einer vorher festgelegten Hypothese oder das Ergebnis einer unerwarteten Enthüllung ist. Dieser grundsätzliche Wunsch nach Vernunft und Klarheit ist unabhängig von der wissenschaftlichen oder nicht-wissenschaftlichen Ausgangslage. Es ist eine generelle Erwartung, meine absolute Grundvoraussetzung für jede Informationstransaktion, auf die ich mich einlasse, ganz zu schweigen von einem Bildungskontext (um es klar zu sagen, ich betrachte ‹Kunsterfahrungen› nicht als ‹Informationstransaktionen›, vielleicht fällt es mir deshalb schwer, poetische Videoessays als Wissensquellen zu betrachten). Die Beschäftigung mit «unnützer Gelehrsamkeit», die «eine unübersetzbare Form von absurdem Wissen hervorruft und daran teilhat»27, klingt reizvoll, aber sie scheint auch ein ultimatives elitäres Privileg zu sein, das sich nicht viele Menschen in der akademischen Welt – Lehrende oder Studierende – leisten können oder wollen.
Und schließlich, ohne es zu übertreiben, müssen wir uns eingestehen, dass sowohl die ursprüngliche Frage – ‹Was macht videografische Forschung akademisch gültig?› – als auch die hiermit angesprochene mildere Abwandlung – ‹Was hat es mit dem «Akademischen» in der videografischen Forschung auf sich?› – Fragen sind, die nur von Wissenschaftler*innen gestellt werden, die in der akademischen Welt tätig sind (mich eingeschlossen, schuldig im Sinne der Anklage).
Für unsere Studierenden sind sie nicht wichtig (glauben Sie mir, ich habe sie gefragt), und für eine/n YouTuber- oder TikToker*in, deren/dessen Motivation für die Erstellung von Videos von ganz anderen – entweder cinephilen oder meist direkten monetären – Interessen geleitet wird, sind sie sicher auch nicht von Bedeutung. Die akademische Validierung kann jedoch auch indirekt mit den gewünschten finanziellen Belohnungen verbunden sein, etwa durch die Einwerbung von Stipendien oder eine Anstellung, und so zu existenziellen Vorteilen innerhalb der akademischen Einrichtung führen. Tatsächlich ist der Widerstand gegen traditionelle akademische Praktiken, Werte und die akademische Institution selbst nur für Forscher*innen innerhalb eines akademischen Umfelds relevant. Widerstand ist eine grundsätzlich akademische Tätigkeit, die letztlich die (Relevanz des) Etiketts ‹akademisch› definiert.
- 1Miklós Kiss: The Audiovisual Research Essay as an Alternative to Text-Based Scholarship, in: [in]Transition Journal of Videographic Film and Moving Image Studies, Jg. 1, Nr. 3, 2014, mediacommons.org/intransition/2014/08/22/kiss (8.12.2023).
- 2Thomas Van Den Berg, Miklós Kiss: Film Studies in Motion – From Audiovisual Essay to Academic Research Video. Scalar, 2016, scalar.usc.edu/works/film-studies-in-motion/ (8.12.2023).
- 3Miklós Kiss: Videographic Scene Analyses, Part 1, in: NECSUS Spring #Resolution, 2018, necsus-ejms.org/videographic-scene-analyses-part-1/ (8.12.2023). Miklós Kiss: Videographic Scene Analyses, Part 2, in: NECSUS Autumn #Mapping, 2018, necsus-ejms.org/videographic-scene-analyses-part-2/ (8.12.2023).
- 4Miklós Kiss: Videographic Criticism in the Classroom: Research Method and Communication Mode in Scholarly Practice, in: The Cine-Files. A Scholarly Journal of Cinema Studies. Special issue (15) on the scholarly video essay, 2020, www.thecine-files.com/videographic-criticism-in-the-classroom/ (8.12.2023).
- 5Catherine Grant: The Shudder of a Cinephiliac Idea? Videographic Film Studies Practice as Material Thinking, in: Aniki – Portuguese Journal of the Moving Image, Jg. 1, Vol. 1 2012, 49–62, sro.sussex.ac.uk/id/eprint/47473/1/59-204-1-PB.pdf (8.12.2023).
- 6 Es ist mir nicht gelungen, die Originalquelle des Zitats zu finden, das Lynch zugesprochen wird.
- 7 Kiss, Videographic Scene Analyses, Part 2.
- 8Cristina Álvarez López, Adrian Martin: Introduction to the audiovisual essay: A child of two mothers, NECSUS Autumn #War, 2014, https://necsus-ejms.org/introduction-audiovisual-essay-child-two-mothers/ (8.12.2023).
- 9Ibid.
- 10Van Den Berg, Kiss, Film Studies in Motion. Kiss Videographic Scene Analyses, Part 1. Kiss Videographic Scene Analyses, Part 2.
- 11Kiss, Videographic Scene Analyses, Part 2.
- 12 Katie Bird auf Twitter, Sept. 7, 2022, https://twitter.com/ArtHouseDirectr/status/1567602079501279233 and https://twitter.com/ArtHouseDirectr/status/1567602086660947968 (8.12.2023).
- 13 Mark Sample: Notes Towards a Deformed Humanities, in: @samplereality blog, May 2, 2012, samplereality.com/2012/05/02/notes-towards-a-deformed-humanities/ (8.12.2023).
- 14Ian Garwood: Writing about the Scholarly Video Essay: Lessons from [in]Transition’s Creator Statements, in: The Cine-Files. A Scholarly Journal of Cinema Studies. Special issue (15) on the scholarly video essay, 2020, www.thecine-files.com/writing-about-the-scholarly-video-essay-lessons-from-intransitions-creator-statements/ (8.12.2023).
- 15Susan Harewood: Canon and Catalyst in Video Essays, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Videography, June 12, 2023, zfmedienwissenschaft.de/en/online/videography-blog/canon-and-catalyst-video-essays (8.12.2023).
- 16 Alan O’Leary: Workshop of Potential Scholarship, in: NECSUS Spring #Solidarity, 2021, necsus-ejms.org/workshop-of-potential-scholarship-manifesto-for-a-parametric-videographic-criticism/ (8.12.2023).
- 17Ibid.
- 18Abraham Flexner: The Usefulness of Useless Knowledge, in: Harpers, 179, June/November 1939, www.ias.edu/sites/default/files/library/UsefulnessHarpers.pdf (8.12.2023).
- 19Miklós Kiss: Desktop Documentary: From Artefact to Artist(ic) Emotions, in: NECSUS Spring #Solidarity, 2021, necsus-ejms.org/desktop-documentary-from-artefact-to-artistic-emotions/ (8.12.2023).
- 20Kevin B. Lee: The Video Essay: Lost Potentials and Cinematic Futures, 2018, vimeo.com/298734232 (8.12.2023).
- 21Evelyn Kreutzer, Johannes Binotto: A Manifesto for Videographic Vulnerability, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Videography, June 12, 2023, zfmedienwissenschaft.de/en/online/videography-blog/manifesto-videographic-vulnerability (8.12.2023).
- 22Ibid.
- 23Ibid.
- 24O’Leary, Workshop of Potential Scholarship.
- 25Susan Harewood: Seeking a Cure for Cinephilia, in: The Cine-Files. A Scholarly Journal of Cinema Studies. Special issue (15) on the scholarly video essay, 2020, www.thecine-files.com/seeking-a-cure-for-cinephilia/ (8.12.2023).
- 26Ibid.
- 27O’Leary, Workshop of Potential Scholarship.
Bevorzugte Zitationsweise
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