Vom Vorleben und Nachleben des Kinos
Konferenz zur Geschichte und Epistemologie des Films in Montréal, 4.-7. Juni 2010
Dass im Zeitalter von YouTube und BitTorrent, von kinematografischen Installationen und Handyfilmen das Kino einen Großteil seiner einstigen Stabilität als Medium, Institution, Dispositiv und Kulturtechnik eingebüßt hat, scheint inzwischen Allgemeingut zu sein. Die voranschreitende Historisierung der eigenen Disziplin, die sich zumindest im angelsächsischen Raum abzeichnet1, kann in diesem Zusammenhang als ein krisenhaftes Symptom verstanden werden, aber auch als Erkenntnis der eigenen reichhaltigen Geschichte, deren Erforschung produktive Ergebnisse erbringt. Vor diesem Hintergrund der Krise als Chance zur Neuorientierung richtete die kanadische Forschungseinrichtung Arthemis (Advanced Research Team on the History and Epistemology of the Moving Image Studies) eine dreieinhalbtägige Konferenz zur Geschichte und Epistemologie des Bewegtbildes an der Concordia University in Montréal aus. Erfreulich ist, dass neben nordamerikanischen KollegInnen auch WissenschaftlerInnen aus England, Frankreich, Italien und Deutschland geladen waren, so dass die Veranstaltung von vorneherein als transnationaler und transatlantischer Dialog angelegt war.
Direkt mit der häufig behaupteten, wenn auch selten konsequent untersuchten Instabilität des Kinos befasste sich zunächst André Gaudreault, der in einer einführenden Lecture-Performance kritisch die oxymoronischen Konstruktionen von „home cinema“ und „Agora-télé“ beleuchtete, die Annahmen bezüglich Öffentlichkeit und Privatheit, aber auch der Größe des Bildes und der Funktion des Tons in Frage stellen. Francesco Casetti knüpfte daran an, indem er die Kinoerfahrung (im Gegensatz etwa zu Institution und Dispositiv) als jenes Element herauspräpariert, das den (möglichen) „Tod“ des Kinos überleben würde und auch in anderen medialen Formen ein Nachleben fände. Diese beiden Positionen rahmten den ersten Tag, der schwerpunktmäßig theoretischen Überlegungen gewidmet war und vor allem der Frage nachging, welche Arten von Erkenntnis das Kino (und die Filmwissenschaft) produzieren kann. Erfreulich vielfältig präsentierten sich hierbei die Positionen von Marc Furstenaus leidenschaftlichem Angriff auf quantitative Ansätze wie Cinemetrics (www.cinemetrics.lv) über Martin Lefebvres von Peirce inspirierter Untersuchung der Legitimität medienwissenschaftlichen Wissens bis hin zu Noël Carrolls Versuch, SUNSET BOULEVARD (USA 1951, Billy Wilder, BOULEVARD DER DÄMMERUNG) als philosophischen Film zu verstehen. Die Vorträge wurden von lebhaften Auseinandersetzungen begleitet, die scharf in der Sache, aber immer fair im Ton waren. Auch wenn einige Debatten wie jene zwischen Psychosemiotik und Neoformalismus bereits historisch erscheinen, so zeigte sich doch das darin immer noch enthaltene Erregungspotenzial, so etwa in der Frage der ironischen Distanzierung oder (quasi der Klassiker) der Bedeutung der Psychoanalyse für die Filmtheorie.
Während die Tage einerseits einen klaren Fokus hatten – der erste Tag war theoretischer Natur, der zweite drehte sich vor allem um (Institutionen-)Geschichte und der dritte fokussierte mit Avantgarde und Cinephilie alternative Praktiken –, so gab es doch eine Reihe von übergreifenden Anknüpfungspunkten, Widersprüchen und impliziten Resonanzen: Sowohl David Rodowick, der per Skype aus Berlin zugeschaltet wurde, wie auch Tom Gunning setzten sich mit der Bewegung im Bewegungsbild auseinander – Gunning im präfotografischen und Rodowick im postfotografischen Bild. Überhaupt schälte sich die Frage, inwieweit das Vorleben des Kinos (und dessen nicht-hegemoniale, marginale Praktiken) uns etwas über sein (heutiges Nach-)Leben mitteilen kann, als zentrale Problematik der Tagung heraus. In diesem Sinne argumentierten eine Reihe von historischen Mikrountersuchungen, dass die Filmgeschichte weitaus breiter und komplexer ist als dies in herkömmlichen Studien zum Mainstreamfilm dargestellt wird. Solche bisher vernachlässigten Fassetten wie der Einsatz von Film in Schule und Ausbildung (Charles Acland), die Geschichte der portablen Projektoren als Genealogie der heutigen mobil-miniaturisierten Bildtechnologien (Haidee Wasson), der Einsatz des Kinos im Strafvollzug zwischen Disziplinierung und Unterhaltung (Alison Griffiths), das fast unbegrenzte Nachleben von Filmen durch DVD und im Internet (Barbara Klinger) und die Rolle des British Film Institute im kolonialen England als Bildungseinrichtung (Peter Bloom) unterstrichen, dass noch immer zahllose Funde in den Archiven schlummern und viele Felder nach wie vor nur wenig bekannt sind.
Am abschließenden dritten Tag stand zunächst die Avantgarde auf dem Programm: Michael Zryd und Malte Hagener knüpften an Äußerungen von John Caldwell und Barbara Klinger an, die nach der Begründung für das fortdauernde Interesse an der Avantgarde gefragt hatten, und argumentierten anhand historischer Untersuchungen zur europäischen Avantgarde der Zwischenkriegszeit bzw. zur nordamerikanischen Avantgarde der 60er und 70er Jahre für den nachhaltigen Einfluss dieser Bewegungen auf die Entwicklung des Fachs. Der Idee der Cinephilie, die in den letzten Jahren eine Renaissance erlebt hat, war dann der Nachmittag des dritten Tages gewidmet. Cinephilie erlaubt eine Reihe von Fragen zum Kino (neu oder anders) zu formulieren, so etwa nach der Konzeptualisierung von weiblicher Zuschauerschaft (Rosanne Maule), nach dem Verhältnis von Queerness und Erinnerungskultur im Kino (Julianne Pidduck) sowie nach der Rolle archivarischer Praktiken für die Produktion von Essayfilmen (Catherine Russell).
Die von einem Team um Martin Lefebvre und Eric Prince hervorragend organisierte Tagung wurde von einem Blog begleitet, in dem die DoktorandInnen der Universität die Vorträge reflektierten und kritisch diskutierten. Nicht nur war damit eine Gruppe aktiv in die Konferenz integriert, die sonst häufig eher passiv an solchen Veranstaltungen teilnimmt, es ergab sich auch ein Diskussionszusammenhang, der über den zeitlich und räumlich begrenzten Rahmen der Tagung hinaus wirkte (http://arthemis-cinema.ca/en/view_conference_blog). Diesem Modell eines Konferenz-Blogs kann man nur zahlreiche Nachahmer wünschen.
Als Fazit wurde deutlich, dass Filmgeschichte und Filmtheorie für das Verständnis der heutigen Bewegtbildkultur unabdingbar sind. Ob man sich für YouTube oder medizinische Bildgebungsverfahren interessiert, für zeitgenössische Architektur oder mobil-miniaturisierte Interfaces – das im Zusammenhang mit Film und Kino entstandene Wissen ist keineswegs obsolet, selbst wenn sich Aufzeichnungstechnik und Verbreitungswege, Trägermaterial und Publikumsadressierung radikal verändert haben und sich diese Entwicklung fortsetzt. Vergessen sollte man darüber allerdings nicht das Fernsehen und die Produktionskultur als oft unterschlagene und vernachlässigte Felder, die nicht nur der Größe nach wichtige Bestandteile der heutigen Medienkultur sind – daran erinnerte John Caldwell in seinem Vortrag nachdrücklich.
Darüber hinaus gelang es der Konferenz aufzuzeigen, dass es sich bei Theorie und Geschichte keineswegs um separate Felder handelt, sondern um zwei Seiten einer Münze, die immer wieder aufeinander bezogen werden müssen. Die Fragen, die heute in der Medientheorie gestellt werden, gehen zumindest implizit von Annahmen über die Historizität der Medien aus, während umgekehrt historische Untersuchungen aus theoretischen Problemstellungen entstehen können, wie man etwa anhand der aktuellen Debatten zur Indexikalität der Fotografie nachvollziehen kann. In der Abschlussdiskussion war es Tom Gunning, der daran erinnerte, wie Hollis Frampton den berühmten Lumière-Satz, das Kino sei eine Erfindung ohne Zukunft, verstanden habe: nämlich dass eine Sache nur dann eine Zukunft haben könne, wenn sie auch eine Vergangenheit besitze. In diesem Sinne würde die Suche nach einer anderen Vergangenheit (besser: nach anderen Vergangenheiten) vor allem Symptom dafür sein, dass sich die antizipierte Zukunft verändert. Und derart sollte dann auch ein Teil der immer wieder artikulierten Furcht über die anstehenden Veränderungen des Films (und der Filmwissenschaft) verpuffen, denn auch wenn die Zukunft unbekannt bleibt, bei einer solch reichen Vergangenheit gibt es weder aus kulturellen noch aus wirtschaftlichen Gründen eine Veranlassung an der Zukunft zu zweifeln, die das Kino besitzt – in welcher Form allerdings, das bleibt nach wie vor offen.
Juli 2010
- 1Siehe dazu etwa die historiografischen Studien von Peter Decherney: Hollywood and the Cultural Elite. How the Movies Became American. New York: Columbia University Press 2005; Haidee Wasson: Museum Movies. The Museum of Modern Art and the Birth of Art Cinema. Berkeley, CA: University of California Press 2005; Dana Polan: Scenes of Instruction. The Beginning of the US Study of Film. Berkeley, CA: University of California Press 2007; Lee Grieveson, Haidee Wasson (eds.): Inventing Film Studies. Towards a History of a Discipline. Durham, NC: Duke University Press 2008; Lucy Fischer (ed.): “In Focus: SCMS at Fifty”. In: Cinema Journal, vol. 49, n
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