© Alan O'Leary
Nebular Epistemics
Ein Glossar (Scholarship Like a Spider or Spit)
Obgleich ich in diesem Beitrag eine der abstrakteren Formen der videografischen Kritik, die sogenannte ‹deformative› Kritik (‹deformative› critcism), diskutiere, ist dieser Videoessay selbst näher an der etwas verunglimpften Form der illustrierten Vorlesung. In «Nebular Epistemics» sitzt eine verkleidete Person an einem Schreibtisch, flankiert von einer Leinwand mit projizierten Präsentationsfolien und Clips. (Die Musik spielt auf das Format des verfilmten Monologs von Spalding Gray, Swimming to Cambodia, an.)1 Weitere Elemente sind Ausschnitte aus Videoarbeiten von Jason Mittell und Jenny Oyallon-Koloski sowie aus einem Film von Lars von Trier und Jørgen Leth.2 Deren Präsenz ist selbsterklärend. Die Ausschnitte aus der Aufzeichnung einer Autofahrt, in denen der Urheber mit seiner Lebensgefährtin (der Tanzkünstlerin und Filmemacherin Marie Hallager Andersen) ungelenk Ideen diskutiert, mag jedoch einer Begründung bedürfen (der Grund für die Verwendung von Standbildern in diesen Ausschnitten verdeutlicht sich möglicherweise im Abspann des Videoessays).
Ich habe vergessen wo, aber ich habe einmal eine Beschreibung der Gemälde von R. B. Kitaj gelesen, in der die Verwendung von ‹ersten Spuren› gelobt wurde – diese unbeholfenen, aber lebendigen ersten Linien, die auf einer Leinwand gezogen werden, um eine Figur oder einen Gegenstand zu beschreiben. Ein*e andere*r Maler*in hätte diese Spuren vermutlich übermalt oder korrigiert, aber Kitaj hat sie oft, vielleicht wegen ihrer Lebendigkeit, in ihren Werken beibehalten, die ansonsten sehr fertig und virtuos sind. Ich wollte diese Idee der ‹ersten Spuren› für einen stark bearbeiteten Videoessay adaptieren, um den Prozess des Denkens zu würdigen und um etwas von der Arbeit (des*der Wissenschaftler*in und seiner Gesprächspartner*innen) sichtbar zu machen, was bei der Herstellung eines fertigen Werks oft verborgen bleibt.
Das zögerliche und unbeholfene Denken, das in diesen Segmenten aufgezeichnet wird, könnte den*die Betrachter*in an der Autorität der männlichen sprechenden Person des Videoessays zweifeln lassen; der Ton des Stücks (verschmitzt vielleicht) mag den*die Betrachter*in an seiner Aufrichtigkeit zweifeln lassen. Dieser Eindruck ist beabsichtigt: Teil des nebulösen Ethos, das im Videoessay zum Ausdruck kommt, ist die mögliche Unzuverlässigkeit des Sprechers. In dem zu Beginn des Videoessays verwendeten Zitat deutet Adorno an, dass der Essay eine Form ist, in welcher «der Denkende [eigentlich] gar nicht [denkt], sondern sich zum Schauplatz geistiger Erfahrung [macht]».3 In gewissem Sinne ist die Zuverlässigkeit des*der Vortragenden im Videoessay also weder das eine noch das andere: Was zählt, ist die durch den Videoessay selbst ermöglichte Erfahrung. Und somit verstehe ich «Nebular Epistemics», trotz Verwendung des formal konservativsten aller Modi, der illustrierten Vorlesung, als Wissenschaft in einem modernistischen Idiom: eine Anordnung von Strängen und Fragmenten, die von dem*der Betrachter*in (neu) zusammengesetzt werden sollen.
- 1Swimming to Cambodia, Regie: Jonathan Demme, USA 1987.
- 2Jason Mittell, Object Oriented Breaking Bad, Vimeo, 2019, https://vimeo.com/336691810; Jenny Oyallon-Koloski, Musical Deformations: Les Demoiselles de Rochefort Grid, Vimeo, 2017, https://vimeo.com/231327035; The Five Obstructions, Regie: Lars von Trier und Jørgen Leth, Dänemark 2003.
- 3Englisches Zitat im Videoessay: Theodor Adorno: The Essay as Form, in: Theodor Adorno: Notes to Literature, New York 1991, 13. Deutsch: Theodor W. Adorno: Der Essay als Form, in: Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur I, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1958, 21.
Bevorzugte Zitationsweise
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