Practices of Viewing (2021)
© Johannes Binotto
Ein Manifest für videografische Verletzlichkeit
- Es gibt keine best practice.
(Niemand fragt eine Malerin: «Welcher ist dein bester Pinsel?» Zu wissen, wie man in AdobePremiere schneidet, ist für die Erstellung von Videoessays nicht notwendigerweise besser als iMovie oder das Zeichnen auf einem Blatt Papier). - Wir benutzen die Werkzeuge, die wir haben und setzen sie auf ungeplante Weise ein.
- Die videografische Praxis ist eine affektive, multisensorische und körperliche Erfahrung. Wir nutzen unseren Körper, unsere Erinnerungen, unsere Intuitionen, unsere Schwächen.
- Was bedeutet «Essay» im wörtlichen Sinne? («essayer»: probieren, erproben, überprüfen... [und scheitern])
- Beschränkungen sind produktiv, sie sind arbiträr, aber niemals zufällig (und sie sind dazu da, übertreten zu werden).
- Niemand von uns weiß mehr als die anderen, aber wir alle wissen Unterschiedliches.
- Vollständigkeit ist nicht das Ziel und Unversehrtheit nicht der Anfang – wir streben nach Vielfalt und Unerschöpflichkeit.
- Lasst uns keine Videoessays machen, um etwas zu beherrschen.
- Wir streben den Prozess an, nicht das Ergebnis.
- Wir sollten audiovisuelle Quellen nicht nur nutzen, um das Material zu analysieren, zu hinterfragen und zu problematisieren, sondern wir sollten sie auch verwenden (zweckentfremden? missbrauchen? recyclen? uns zu eigen machen?), um über/durch/mit unserem Leben, unserer Kultur und unserer Gesellschaft zu denken.
- Lasst uns aufhören, über Erfolg zu reden, und fangen wir an, über Resonanz zu sprechen.
- Begrüßt Fehler, Unfälle, Pannen und Zufälle!
- Perfektion ist eine Krankheit.
- Seid verletzlich (und bedenkt eure Privilegien).
Das Manifest ist das Resultat unserer eigenen Wünsche und Ängste und der zahlreichen Gespräche, die wir in den letzten Monaten miteinander und mit unseren Kolleg*innen geführt haben. Uns fiel auf, wie der Begriff ‹Verletzlichkeit› ins Zentrum rückte, als wir versuchten, die neuen Richtungen zu bewerten, in die sich die Videoessay-Kultur zu entwickeln scheint. Dazu gehört ein zunehmender Trend zu ‹persönlichen› Einschreibungen, Modi und Erzählungen. Dieses Manifest ist eine Aufforderung, über unsere individuellen und kollektiven Verletzlichkeiten im videografischen Denken und Handeln nachzudenken und an diese anzuknüpfen. Das folgende Gespräch ergänzt die oben dargelegten Aspekte um weiteren Kontext und Diskussion.
Evelyn:
Ich denke, es ist unmöglich, über Verletzlichkeit zu sprechen, ohne über das Persönliche zu reden – persönliche Beteiligungen, Motivationen, Interessen, Erfahrungen, Identitäten, Körper, usw. In Anbetracht der Tatsache, dass Videoessays zunehmend implizit und explizit persönliche Modi und die persönlichen Positionen der Produzent*innen zu beinhalten scheinen, frage ich mich, ob wir von einem ‹personal turn›, einem besonderen Interesse am Persönlichen, in der videografischen Praxis sprechen können.
Johannes:
Sicherlich, aber das Persönliche und die damit einhergehende Verletzlichkeit waren immer präsent. Wahrscheinlich wurde das jedoch nicht hervorgehoben. Oder es war etwas, bei dem wir als Wissenschaftler*innen gelernt haben, es gerade zu verleugnen. Stattdessen haben wir gelernt, aus einer Position der Expertise und des fundierten Wissens heraus zu sprechen, die immer gegen mögliche Angriffe abgesichert sein soll. Ich für meinen Teil habe das Gefühl, dass ich mit Videoessays etwas tue, worauf ich nicht vorbereitet war, und dass ich dadurch Kritik stärker ausgesetzt bin. Bei meinen Videoessays war ich gezwungen, mich auf meine eigenen Ressourcen zu verlassen. So wurde es unweigerlich persönlich. Als Reaktion darauf habe ich zunehmend das Bedürfnis, in meinen Videos zu erscheinen und damit auch in den Filmen, mit denen ich arbeite. In ihnen physisch anwesend zu sein, als verletzlicher Körper. Und eine der Erklärungen für mich ist, dass ich schon immer diesen Wunsch hatte, auch wenn ich etwas zitierte – im Gespräch zu sein, im selben Raum mit der Person, die ich zitiere.
Evelyn:
Genau. Vielleicht ist es dann besser, von einem ‹personal (re-)turn›, also einer Rückkehr zum Persönlichen, zu sprechen? Und natürlich beziehen sich viele der kanonischsten essayistischen Texte ausgiebig auf den persönlichen Modus. Walter Benjamin und vor allem Roland Barthes zum Beispiel haben in ihren Analysen von Bildern, Texten und Kunst häufig das Persönliche beschworen. Ich habe allerdings noch nie so über Zitate nachgedacht, wie du es tust. Natürlich haben Zitate beim wissenschaftlichen Schreiben auch eine Funktion – sie legitimieren die eigenen Argumente und die eigene Stimme. Mit videografischen Methoden ‹funktionalisiere› ich zunehmend auch die audiovisuellen Quellen. Ich war früher sehr zögerlich, das zuzugeben, aber ich habe definitiv Videos gemacht, bei denen ich weniger daran interessiert war, die Filme an sich zu analysieren, sondern sie eher als Material zu benutzen – als Bilder und Töne, durch die ich etwas ausdrücken konnte, was ich ohnehin ausdrücken wollte. Genauso wie du also versuchst, dich in dein Material einzuschreiben, so schreibe ich wohl mein Material in meine Stimme ein?
Johannes:
Ich denke, es gibt eine Verbindung dieser beiden Positionen. Psychoanalytisch betrachtet, gibt es diese Vorstellung, dass mein eigenes Begehren eigentlich etwas ist, das da draußen in den fremden Texten existiert, die nicht von mir sind. Was ich interessant finde, ist, dass ich weder eine objektive, reine Analyse des Objekts versuche, noch einfach nur von meinem eigenen Begehren besessen bin, sondern dass ich vielmehr erlebe, wie mein Begehren geweckt wird, wenn ich etwas lese oder wenn ich etwas sehe. Und oft taucht eine bestimmte Person irgendwo in meinem Text auf, nicht weil es für die Argumentation wirklich notwendig ist, sondern weil ich einfach möchte, dass diese Person präsent ist.
Evelyn:
Ja, das empfinde ich auch so. Und wenn ich sage, dass ich an manche Projekte mit dem Wissen herangehe, dass ich etwas ausdrücken möchte, bevor ich mich überhaupt mit den audiovisuellen Quellen befasst habe, dann offenbart mir das Material, sobald ich damit zu arbeiten beginne, neue Einsichten und beeinflusst und verändert die ursprüngliche Ausdrucksidee sowieso. Es gibt da eine Resonanz, die aus diesen Wechselwirkungen zwischen mir, dem Material, mit dem ich arbeite, den Assoziationen, die diese in anderen hervorrufen mögen, den Assoziationen, auf denen die Urheber*innen des Materials aufbauen, usw. entsteht. Hartmut Rosa verwendet diesen Begriff der ‹Resonanz› als Gegengewicht zur Reizüberflutung und der gesteigerten Geschwindigkeit des täglichen Lebens im 21. Jahrhundert und ich habe das Gefühl, dass dies auch auf einen der Hauptanziehungspunkte des videografischen Experimentierens zutrifft.
Johannes:
Ich stimme dem vollkommen zu. Aber natürlich ist es billig, dazu aufzurufen, experimenteller, persönlicher, verletzlicher zu sein und sich zu exponieren. Denn letztlich ist das auch eine Frage des Privilegs. Kann man sich das leisten? Was wären die Risiken? Ich bin wirklich froh, dass ich erst relativ spät angefangen habe, Videoessays zu machen. Das hat mir erlaubt, etwas zu erforschen, als wäre ich ein Kind. Ich musste mich weniger beweisen, sondern konnte herumspielen. Aber ich bin mir bewusst, dass ich das nur aus einer Position der Sicherheit heraus tun konnte. Ich kann es mir leisten, mich verletzlich zu zeigen, weil ich nicht existenziell bedroht bin.
Evelyn:
Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Als jemand in einer weniger etablierten Position als du, habe ich viel darüber nachgedacht. Einige Leute haben mich gewarnt, dass es zu riskant sein könnte, eine akademische Karriere als Videoessay-Wissenschaftlerin/-Produzentin zu beginnen, weil es noch nicht so etabliert ist wie andere Bereiche und Methoden. Gleichzeitig denke ich oft, dass die akademische Laufbahn als Nachwuchswissenschaftler*in in jedem Fall prekär ist, so dass ich das, was mich am meisten interessiert, vielleicht gerade verfolgen sollte, selbst aus einer eher prekären Position heraus.
Johannes:
Ja, absolut. Die Problematik der akademischen Welt und des Arbeitsmarktes zwingt uns ja geradezu dazu, experimentell zu sein und etwas Neues auszuprobieren. Denn die Aussicht, indem man auf Nummer sicher gehe, finde man bestimmt einen Job, hat sich ja ohnehin als leere Versprechung erwiesen. Ich denke, es ist hilfreich, videografisches Arbeiten in Hinsicht auf Resonanz zu betrachten, wie du es vorgeschlagen hast. Resonanz setzt auch voraus, dass es einen Körper gibt – etwas, mit dem man in Resonanz gehen kann. Das widerspricht bereits dieser Vorstellung von reinem Denken, oder? Dieses überholte, aber leider immer noch existierende Ideal des reinen, körperlosen Denkens – so ein Denken hätte keine Resonanz, sondern es braucht einen anderen Körper, den es in Bewegung setzt, mit dem es in Resonanz zu schwingen beginnt. Auch hier denke ich an die Psychoanalyse und daran, was Jacques Lacan über die Stimme sagte: Die Stimme braucht den anderen als Gefäß, in dem sie widerhallen kann. Er würde sagen, die Stimme existiert nicht ohne die hohle Cochlea des Ohrs. In einem bloßen Vakuum würden wir nichts hören, auch nicht, wenn es keine Wände gibt, von denen der Schall zurückgeworfen wird. Kommunikation setzt also körperliche Anwesenheit voraus.
Evelyn:
Wohl wahr. Und das ist sehr relevant für die körperliche Einschreibung, die du vorhin angesprochen hast, die für mich auch so viel damit zu tun hat, wie ich meine Stimme in Videoessays einsetze. Ich spreche ziemlich viel mit meiner Stimme – zum Teil, weil ich schon immer gerne geschauspielert habe und es eine Möglichkeit ist, dieser Leidenschaft nachzugehen, aber auch, weil es eine Möglichkeit ist, das Video als mein eigenes zu beanspruchen (da die Bilder, die ich verwende, bereits ‹nicht so ganz meine eigenen› sind). Das Aufnehmen von Voice-Overs ist eine wirklich interessante, sehr intime und sehr resonante Tätigkeit. Man sitzt in einer Tonkabine oder unter einer Decke, mit der man Geräusche ausblendet, und man hört seiner eigenen Stimme mit einer Form von Aufmerksamkeit zu, die man sonst nur selten aufbringt. Dasselbe gilt für die Tonbearbeitung. Aber selbst wenn ich Text auf dem Bildschirm verwende, schreibe, lese und bearbeite ich ihn immer so, als ob ich die Worte laut hören würde – ich achte auf Rhythmus, Atem, Tonfall usw. Darin unterscheidet sich das Schreiben für Videoessays deutlich vom Schreiben für eine schriftliche Publikation, findest du nicht auch?
Johannes:
Absolut. Du hast Roland Barthes erwähnt, der stilistisch wohl mein wichtigstes Vorbild ist. Ich wollte immer seinem Sound nacheifern. Ich denke sehr viel über den Sound eines bestimmten Textes nach, wahrscheinlich sogar mehr als über seinen Inhalt. Aber dann versuchen wir, unseren eigenen Klang zu finden. Ich habe Videoessays gesehen, die mich sprachlos gemacht haben: Wie haben deren Autor*innen es geschafft, so viele Filme zu sehen? Aber dann wird mir klar: Wenn es schon gemacht wurde, brauche ich es ja nicht zu tun. Dasselbe gilt für das Schreiben. Ich war immer sehr beeindruckt von diesen Texten, die diese großen Übersichten geben. Ich kann so etwas nicht, aber vielleicht bin ich auch nicht wirklich daran interessiert, das zu tun. Stattdessen erlaubt das mir, meine eigenen verrückten, neuen Experimente zu machen. Aber diese Experimente werden wiederum von all den Autor*innen und Schöpfer*innen beeinflusst, mit denen ich in Kontakt gekommen bin. Studierende sagen mir manchmal, dass sie lieber ihrem Bauchgefühl vertrauen wollen, statt sich auf irgendeine theoretische Position zu verlassen. Sie möchten frei von äußeren Einflüssen sein. Aber ich sage ihnen immer, dass es so etwas nicht gibt. Man wird immer beeinflusst, zwangsläufig. Und wenn wir unserem Bauchgefühl vertrauen wollen, müssen wir darüber nachdenken, was wir gegessen haben. Wenn ich mein ganzes Leben lang nur Pizza gegessen habe, wird mein Bauchgefühl mich nur zu etwas wie Pizza führen.
Evelyn:
Das gilt natürlich auch für das Material, das wir verwenden. Die Texte, Bilder und Klänge, die wir wiederverwenden, sind von den Dingen beeinflusst, die ihre Produzent*innen zuvor verdaut haben, und sie sind auf diese Weise immer Produkte mehrerer Stimmen. Manchmal frage ich mich allerdings, ob wir bei all den Freiheiten, die der persönliche Modus und unsere Verletzlichkeit mit sich bringen, nicht in Versuchung geraten, uns selbst zu belügen. Inwieweit ist unser Mut zur Verletzlichkeit vielleicht auch eine Flucht vor der akademischen Rechenschaftspflicht? Verglichen mit der Veröffentlichung von akademischen Texten habe ich deutlich weniger Hemmungen, ein kurzes Video auf meinem Vimeo-Kanal zu veröffentlichen, vor allem, wenn es in einem eher poetischen oder persönlichen Ton gehalten ist.
Johannes:
Ich denke, es wäre hilfreich, wenn wir uns von der Vorstellung der Vollständigkeit oder ‹Reinheit› lösen würden. Dass irgendetwas, das ich teile oder veröffentliche, jemals diesen Grad an Reinheit erreichen könnte, und stattdessen sollten wir das Halbgesagte, das Ungeklärte und Zufällige annehmen und schätzen. Ich versuche nicht, alles zu sagen, was über ein bestimmtes Thema gesagt werden könnte, denn zu behaupten, alles gesagt zu haben, wäre ohnehin eine Lüge. Das treffendste Beispiel dafür ist für mich immer noch Alain Resnais’ Nuit et brouillard. Einer der ersten Filme über den Holocaust und doch nur 30 Minuten lang. Ich denke, allein die Länge ist schon eine so starke Aussage. Das sagt mir von Anfang an: Das kann nicht alles sein. Und der Film gibt nie vor, alles zu sein. Er verdeutlicht uns, dass es unmöglich ist, jemals einen erschöpfenden Film über den Holocaust zu machen. Es kann nie alles gesagt werden. Und schon die filmische Form selbst zeigt diese notwendige Unvollständigkeit.
Evelyn:
Es ist wichtig zu erwähnen, dass diese ‹Reinheit› auch in unseren persönlichen Einschreibungen nicht existiert. Selbst wenn wir uns verletzlich machen, uns persönlich öffnen, performen wir immer noch und verkörpern Rollen. Hast du allerdings auch das Gefühl, dass wir Unvollständigkeit, Offenheit und Verletzlichkeit eher in den Videos selbst als in den Begleittexten zulassen, mit denen diese üblicherweise veröffentlicht werden? Oder nehmen wir mit den schriftlichen Erklärungen vielleicht sogar etwas von der Verletzlichkeit der Videos zurück? Ich habe durchaus solche Texte aus dem Druck heraus verfasst, dass ich alle akademischen Referenzen einbeziehen muss, die ich im Video nicht unterbringen konnte oder wollte. Das hat natürlich einen pragmatischen Vorteil, was den akademischen Wert betrifft. Die Veröffentlichung von videografischen Arbeiten kann schon ein gewisses Risiko darstellen, und sie sind nicht so zitierfähig wie herkömmliche Publikationen, so dass es sinnvoll ist, die begleitenden Ausführungen derart zu verfassen, dass dies wieder ausgeglichen wird. Aber vielleicht wirkt dies auch der Offenheit und Lesbarkeit unserer Videos entgegen (die Elemente, die sie einem breiteren Publikum zugänglich machen). Es fühlt sich auf jeden Fall manchmal seltsam an, ein Video zu machen, das sehr experimentell und poetisch ist, und es dann mit einem ziemlich konservativen, jargonlastigen akademischen Text zu koppeln.
Johannes:
Ich bin mir nicht sicher, ob ich den poetischen Stil dem akademischen Stil gegenüberstellen würde. Ich füge oft ein Zitat ein, nicht unbedingt, um Dinge zu verdeutlichen, sondern eher, um das Video zu erweitern durch Anspielungen auf andere Diskurse, die vielleicht nur eine Handvoll Leute oder vielleicht sogar nur ich aufgreifen würden. Und das tue ich hoffentlich nicht aus einer Art Selbstgefälligkeit heraus, sondern als Geste der Vielfältigkeit. Eine Geste, dass ich nicht die vollständige Kontrolle darüber habe, wie und was in meinen Videos gesehen, verstanden (oder missverstanden) wird. Hier kommen wir zu einem wirklich interessanten Paradox: Als Geisteswissenschaftler*innen gestehen wir ja den sogenannten Primärtexten eine Unerschöpflichkeit zu. Man würde dumm dastehen, wenn man behaupten würde: Hier präsentiere ich euch die definitive Lesart von Shakespeare. Aber wenn es um unsere eigenen Texte geht, sind wir viel eher geneigt, an einer Fantasie der Kontrolle und Restlosigkeit festzuhalten: Ich weiß ganz genau, was ich gemeint habe, und ich möchte, dass ihr das und nur das versteht! Ich erinnere mich, dass ich einmal einen eher schwierigen Videoessay einem sehr heterogenen Publikum gezeigt habe und danach über einige der verborgeneren Fragen gesprochen habe, mit denen das Video für mich verbunden ist. Und dann fragte jemand: «Das ist interessant, was Sie sagen, aber warum haben Sie es nicht so in das Video eingebaut, wie Sie jetzt darüber sprechen?» Und mir war gleich die Antwort klar: Es gefällt mir, dass mein Video und mein Vortrag nicht identisch sind und dass manche Leute gewisse Dinge, die ich im Video ansprechen wollte, übersehen werden. Was wiederum aber auch bedeutet, dass sie hoffentlich etwas in meinem Video sehen können, woran ich selber gar nicht wirklich gedacht habe. Ich versuche also, Videoessays eher als ein Angebot und weniger als einen Zwang zu betrachten. Man bietet etwas an, und die Leute können sich das herausnehmen, was sie für nützlich halten. Und es kann sein, dass einige meinen Kommentar danach interessanter fanden als das eigentliche Video. Es gibt ja auch Kritiken, die ich den Filmen vorziehe, die sie besprechen.
Evelyn:
Das deckt sich sehr gut mit meiner Vorstellung von Videoessays als eigenständige Archive. Wenn man mit bereits existierenden Quellen arbeitet, greift man auf verschiedene Archive in einem allgemeinen konzeptionellen Sinne zurück. Aber man schafft und kuratiert auch neue Archive, neue Schichtungen von Material, Ideen und Assoziationen – seien sie nun persönlich, kollektiv, kulturell oder pädagogisch. Ich betrachte jedes Video, das ich mache, vor allem wenn es auf mehr als einer Quelle beruht, immer sowohl als das konkrete Video, das ich veröffentliche, als auch als diese zweite, imaginäre, weniger sichtbare Einheit – dieses größere Archiv aller Quellen und Kontexte, aus denen die von mir verwendeten Fragmente stammen, und aller Beziehungen, die diese Quellen untereinander, mit anderen Quellen und mit weiteren Einflüssen hervorrufen können. In gewisser Weise machen wir das Gleiche mit unseren geschriebenen Texten, nicht wahr? Wir schaffen Archive der Referenzen und Resonanzen. Wir üben lediglich unsere Kontrolle über die Art und Weise aus, wie unsere Arbeit in dieser Form anders wahrgenommen werden könnte. Wenn wir ein Video online stellen, wissen wir nicht, in welchem Kontext es jemand ansehen wird, auf welcher Art von Bildschirm diese Person es abspielen wird, oder mit wie viel Aufmerksamkeit diese Person es gucken wird. Indem wir aber zum Beispiel Musik hinzufügen und einen Rhythmus schaffen, haben wir eine gewisse Kontrolle über das Seh-/Hörerlebnis, die wir in schriftlicher Form nicht so stark haben. Beim Schreiben hingegen können wir viel mehr einrahmen, erklären und kontextualisieren, um unsere Leser*innen expliziter zu leiten – auch das ist eine andere Art der Kontrolle.
Johannes:
Aber paradoxerweise finde ich, dass ein geschriebener Text eigentlich viel interaktiver ist als ein Video. In gewisser Weise übt ein Video mehr Kontrolle aus als ein Text, weil allein die filmische Form so zwingend und linear ist. In einem Text hingegen kann ich herumspringen, die Geschwindigkeit ändern, überspringen, überfliegen und viel freier blättern. Und vielleicht habe ich deshalb gewisse Vorbehalte gegen allzu erklärende, zu autoritative Videoessays, weil ich das Gefühl habe, da Videos schon allein aufgrund ihrer medialen Eigenschaften so linear sind, wünsche ich mir umso mehr Offenheit auf der argumentativen Ebene.
Evelyn:
Es ist ironisch, den Videoessay auf diese Weise als einschränkend zu betrachten, denn die Fähigkeit, anzuhalten, zurückzugehen, gegen Chronologie und Linearität zu verstoßen usw. ist so zentral für das, was der Videoessay mit seinen Quellen tun kann. Im Sinne von Laura Mulvey erlauben uns die digitalen Technologien, Filme anders und entgegen ihrer linearen, ursprünglichen oder angenommenen Zuschauererfahrung zu sehen. Aber dann arbeite ich bewusst oder unbewusst an dem Tempo, dem Rhythmus und der Entwicklung meiner Videos, als ob jeder, der sie ansieht, sie in ihrer Gesamtheit, konzentriert, auf einem einzigen Bildschirm usw. betrachtet. Es macht mir auf jeden Fall mehr Spaß, meine Videos auf einem Festival oder einer Konferenz vor einem Live-Publikum zu zeigen als online. Zum Teil, weil ich auf diese Weise das Gefühl habe, mehr Kontrolle darüber zu haben, wie meine Arbeit gesehen wird.
Johannes:
Wenn ich mit Dir über diese Dialektik von Offenheit und Kontrolle spreche, verstehe ich jetzt auch besser, warum wohl wir uns zu bestimmten kanonisierten Filmen hingezogen fühlen. Nicht weil sie gelungener sind, sondern gerade weil sie aufgrund ihres Status als Meisterwerke bereits so viel Kontrolle ausstrahlen, dass es ein umso lustvollerer und radikalerer Akt ist, sie aufzubrechen und Offenheit in sie einzubringen.
Evelyn:
Ja, das ist auch für mich sehr wichtig. Auf diese Weise gehen wir über das eher cinephile Verständnis von videografischer Arbeit hinaus. Zum Beispiel haben wir beide Videoessays über Hitchcock-Filme gemacht – eine der Größen im cinephilen Diskurs. Ich denke, es ist leicht anzunehmen, dass die Arbeit mit solch bekanntem, ‹überstudiertem› Material entweder in die cinephile Kategorie fällt oder das Material dekonstruiert – problematische Aspekte, fragwürdige Politik usw. des Materials und/oder seiner Macher*innen sichtbar oder hörbar macht. Aber weder das eine noch das andere ist mein Hauptziel, und ich würde behaupten, dass wir beide mit Hitchcock etwas anderes angestellt haben. Indem wir über die persönlichen Seh- und Hörerfahrungen nachdenken, die wir und andere mit solchen kanonischen Filmen gemacht haben, können wir auf ein bestimmtes kulturelles Unbewusstes hinweisen, das in diesem imaginären Mosaik kultureller Assoziationen und gemeinsamer Einflüsse einen großen Raum einnimmt. Indem wir einen Videoessay machen, können wir nicht nur uns selbst verletzlich machen, sondern auch unser Material in verletzliche Fragmente zerlegen und deren Verletzlichkeit aufdecken.
Bevorzugte Zitationsweise
Die Open-Access-Veröffentlichung erfolgt unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 DE.