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Ein Kopf von einem Mann

The Chronicles of Polyaris (2015)
© Christine Reeh

Videography

Über die epistemologischen Eigenschaften des bewegten Bildes

30.5.2023

English version

Ich bin keine Spezialistin, was Videoessays angeht. Ich bin eher daran gewöhnt, über Film und die Art und Weise, wie Film denkt, zu reflektieren, denn mein Schwerpunkt liegt an der Schnittstelle von Filmpraxis und philosophischer Theorie im Kontext künstlerischer Forschung. Dieser Text baut auf einem Kurzvortrag auf, der im Rahmen des englischsprachigen Symposiums «Videography: Art and Academia» gehalten wurde und zielt darauf ab, die folgende Frage zu untersuchen: Wie können wir die epistemologischen Qualitäten von Videoessays erfassen? Im Folgenden lege ich einige meiner Überlegungen zum Filmdenken und zur Epistemologie der bewegten Bilder im Zusammenhang mit filmphilosophischen Diskursen dar.  

Das Feld der Filmphilosophie hat sich in den letzten Jahrzehnten stark entwickelt. Sie bietet einen Kontext, um über den Film nicht nur als Objekt der Analyse, sondern auch als Medium der Erkenntnis, des Denkens und der Produktion von Wissen nachzudenken. Ich spreche in diesem Zusammenhang von Filmphilosophie, da Videoessays sich mit bewegten Bildern nicht nur zum Zweck der theoretischen Analyse befassen, sondern selbst aus bewegten Bildern und Ton, also Film, bestehen. Meine kurzen Ausführungen sollen dazu anregen, einen weiterführenden filmphilosophischen Ansatz zu den erkenntnistheoretischen Aspekten videografischer Essays zu entwickeln.

Zunächst einmal denke ich, dass es eine allgemeine Tendenz dahin gibt, Kunst theoretisch werden zu lassen und Theorie zur Kunst zu machen, so dass die Grenzen zwischen Kunst und Theorie verwischt werden.1 Diese aktuelle Tendenz ist in besonderer Weise symptomatisch für den Videoessay: Viele Videoessays bestehen aus bereits vorhandenen bewegten Bildern und einem gesprochenen Kommentar (der manchmal aus Zitaten anderer Quellen zusammengesetzt ist), die kombiniert werden, um ein theoretisches Argument voranzutreiben, sehr häufig in einem akademischen oder essayistischen Stil. Oft analysieren sie spezifische Aspekte oder Themen aus dem Bereich der Filmtheorie und sie tun dies auf einer Metaebene der Reflexion, in ihrer eigenen audiovisuellen Sprache, die komplex in ihrer Beschreibung und Betrachtung ist. Videoessays treiben ihre Analysen nicht nur durch theoretische Argumente voran, sondern sie bedienen sich direkt des Inhalts, der Struktur und der Sprache des Films. Der (audio)visuelle Fluss und der dazugehörige Kommentar sind ein sorgfältig bearbeitetes, ästhetisches Gefüge von Auszügen aus bestehenden Filmen. Es verweist direkt auf die Ebenen und Dimensionen des Denkens, die dem verwendeten Archivmaterial innewohnen. Der erkenntnistheoretische Gehalt der Videoessays ergibt sich also aus der Metaverbindung zwischen diesen beiden Bereichen: Filmausschnitte und Kommentar, beziehungsweise die Synthese von theoretischem und ästhetischem Wissen in vielschichtiger und polyvalenter Form.  

Während in der traditionellen Filmwissenschaft Filmsequenzen oder -szenen in der Regel als Beleg für theoretische Thesen herangezogen werden, stellen die Szenen in Videoessays ein konstitutives Element des Essays dar und dienen als Grundlage für den Voice-Over-Kommentar, der dem Essay gleichermaßen Gestalt verleiht. Dadurch ändert sich zwangsläufig der theoretische Gehalt der Arbeit, da sich die Bedeutung der bewegten Bildfolge je nach Kommentar und neuem Kontext verändert. Der Grund dafür ist offensichtlich: Es gibt nicht so etwas wie ‹die Szene› selbst. Die Interpretation einer beliebigen Sequenz von bewegten Bildern und Tönen ändert sich je nach dem gegebenen Kontext. Wie wir sie verstehen, hängt von den ihr vorausgehenden und nachfolgenden Sequenzen ab. Darüber hinaus eröffnet das bewegte Bild die Möglichkeit eigener ästhetischer Erkenntnisse und Denkprozesse. Wenn wir versuchen, die epistemologischen Eigenschaften des Videoessays zu definieren, sind wir mit dem konfrontiert, was man als Handlungsfähigkeit der Erkenntnis bezeichnen kann. Da Videoessays in der Regel aus bereits existierenden Filmsequenzen zusammengesetzt sind, können die hier angestellten Überlegungen zu den erkenntnistheoretischen Aspekten von Videoessays von einer filmphilosophischen Perspektive auf die Epistemologie des bewegten Bildes und seine Denkfähigkeit profitieren.

Filmphilosophie wird oft als eine besondere Form des Denkens mit oder durch audiovisuelle Mittel und als eine philosophische Praxis beschrieben, die auf filmischer Erkundung und Untersuchung basiert.2 Film «shifts or puts different light on whatever philosophy has said about appearance and reality»,3 erkannte Stanley Cavell in den 1970er Jahren, den Anfängen der Filmphilosophie. Und in den 1980er Jahren schloss sich Gilles Deleuze mit der Behauptung an, «the essence of cinema [...] has thought as its higher purpose».4 Die Filmphilosophie schreibt dem Film die Fähigkeit zu, seine eigene epistemische Einsicht von philosophischer Bedeutung zu produzieren. Die Behauptung «philosophy in action – film as philosophizing»5 ist somit repräsentativ für die Filmphilosophie geworden und hat eine lebhafte Diskussion ausgelöst, die den Film in einem breiteren Kontext als dem der Beweisgrundlage für die Theorie betrachtet.  

Im Kontext der philosophischen Theorie bezeichnet die Epistemologie – ein Begriff, der sich vom griechischen ‹episteme› für ‹Wissen› ableitet – einen eigenen Zweig der Philosophie, die ‹Erkenntnistheorie›, die sich mit dem Verständnis der Bedingungen von Wissen beschäftigt. Im Deutschen gibt es zwei unterschiedliche Begriffe für Wissen, die jeweils eine eigene Bedeutung haben: ‹Wissen› und ‹Erkenntnis›. Während ‹Wissen› sich auf wissenschaftliche Fakten bezieht, wie wir sie im Sinne von ‹Wissenschaft› finden, ist ‹Erkenntnis› ein breiter gefasster Begriff für Wissen und betrifft Denkprozesse. Die Art des Wissens, die der erste Begriff ‹Wissen› impliziert, bezeichnet also nicht den Prozess des Erkennens oder Verstehens, wohingegen ‹Erkenntnis› dies tut: Das zusammengesetzte Substantiv ‹Erkenntnisvermögen› beschreibt ein Kognitionsvermögen, das den Prozess seiner eigenen Herausbildung impliziert, nämlich den dynamischen Prozess des Denkens. Im Folgenden werde ich über das prozesshafte Erkennen, das mit dem Begriff ‹Erkenntnis› bezeichnet wird, reflektieren und es mit dem Prozess des Denkens in Videoessays in Beziehung setzen.  

Für den Theoretiker Gilles Deleuze ist das Denken ein schöpferischer Akt; Deleuze betont, dass das Denken der gemeinsame Nenner von Wissenschaft, Philosophie und Kunst sei, wobei jede der drei Disziplinen das Denken auf eine andere Weise praktiziere.6 Ich assoziiere den Videoessay mit der künstlerischen Praxis, obwohl er nicht notwendigerweise auf diese beschränkt ist. Videoessays können auch als Beispiele wissenschaftlichen oder theoretischen Denkens verstanden werden. Diese hybride Zone des kreativen Denkens ist insofern interessant, als sie die Grenzen zwischen Theorie und Kunst verwischt, wie eingangs erwähnt. Darüber hinaus verleiht die Tatsache, dass die meisten Videoessays auf bereits existierenden Filmausschnitten aufbauen, ihnen eine Metaebene der Erkenntnis.  

Deleuze untersuchte die intrinsische Beziehung zwischen Film und Denken in Kino 1: Das Bewegungs-Bild und Kino 2: Das Zeit-Bild, zwei in der Filmphilosophie viel beachtete und diskutierte Bücher. In Kino 2 stellt Deleuze die oben erwähnte Behauptung auf, dass das Wesen des Kinos als oberstes Ziel das Denken habe.7 Zusammen mit anderen wie Martin Heidegger oder Jacques Derrida wird Deleuze gemeinhin als Vertreter einer philosophischen Denkschule verstanden, die vorschlägt, dass Kunst als «Veränderung des Denkens»8 mit Konsequenzen für die Philosophie fungiere. Diese oft ignorierte Transformation der Philosophie durch die Konzepte des Kinos stellt die akademischen Methoden in Frage: Wie kann die Philosophie durch etwas erneuert werden, das außerhalb von ihr verortet ist? «Staying in philosophy also means to get out of philosophy. But getting out of philosophy doesn’t mean doing something else. One has to get out while remaining within …»9 Hier legt Deleuze ein Schlüsselprinzip für sein philosophisches Interesse am Kino fest: Indem er ins Kino geht, will er neue Konzepte des Denkens entwickeln. Aber warum sind diese Begriffe für Deleuze als philosophisches Wissen von Bedeutung? Im Folgenden beschreibe ich anhand eines Beispiels, wie Deleuze dem bewegten Bild im Kontext des Kinos epistemische Erkenntnis zuschreibt, und was dies für das bewegte Bild im Kontext des Videoessays bedeuten könnte.

Erstens ist Deleuze von der Art und Weise fasziniert, wie das Kino durch die Zeit bedingt wird. Über die Zeit nachzudenken, so Deleuze, ist für die Philosophie eine besondere Herausforderung: «If we take the history of thought, we see that time has always put the notion of truth into crisis.»10 Für Deleuze sind die Zeit und das filmische Bild miteinander verwoben: «The image itself is an ensemble of time relations.»11 Eine solche Vorstellung von komplexer Zeit, die sich aus den Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Schichten zusammensetzt, deutet auf ein Verständnis des Bildes als Kraftfeld hin. Das Filmbild ist für Deleuze kein Medium. Das Bild ist eine Vielzahl (multiplicité) von mechanischen Kräften in Bewegung und Teil eines metakinematischen Universums von Bewegungs-Bildern.  

Dies bringt uns zu seinem zweiten entscheidenden Punkt: Für Deleuze sind diese mechanischen Kräfte in der Bewegung automatisch. Das Bild im Kino erreicht seine Vielschichtigkeit durch eine automatische Selbstbewegung, «no longer depend[ing] on a moving body or an object which realizes it, nor on a spirit which reconstitutes it. It is the image which itself moves in itself.»12 Durch diese automatische Bewegung, so Deleuze, verwirklicht sich das künstlerische Wesen des Bildes: «producing a shock to thought, communicating vibrations to the cortex, touching the nervous and cerebral system directly.»13

Darüber hinaus erzeugt dieser ‹Nooschock›14, ein Neologismus, der sich aus den Worten ‹Schock› und dem altgriechischen νοῦς, nous oder ‹Geist/Verstand› zusammensetzt, durch filmische Bewegung einen «spiritual automaton [which combines] the shared power of what forces thinking and what thinks under the shock»15. Anders gesagt, der Nooschock ‹erweckt den Denker in dir›.16 David Rodowick betont, dass das Kino für Deleuze eine ‹künstliche Intelligenz› sei,17 eine Hypothese, die erstmals von Jean Epstein formuliert wurde, zu einer Zeit, als der Kinematograf sowohl eine Aufnahme- als auch eine Projektionsmaschine war und daher mit einem ‹Robotergehirn› verglichen wurde.18

Was ich bis hier skizziert habe, ist nur ein kurzes, kanonisches Beispiel dafür, wie sich die Filmphilosophie mit dem Film als Medium des Denkens auseinandersetzt.19 Übertragen wir nun dieses Deleuz’sche Beispiel des denkenden Filmbildes auf den Videoessay, so sehen wir, dass alles, was Deleuze über das Bild sagt, auch hier gilt. Da Videoessays aus bewegten Bildern, genauer gesagt aus Ausschnitten aus bereits existierenden Filmen bestehen, gründen sie auf Zeit und behandeln das Bild als Kraftfeld von Zeitverhältnissen. Ein markanter Unterschied wird jedoch deutlich, wenn wir Deleuzes Konzept des Nooschocks betrachten. Die Art und Weise, wie das bewegte Bild das zerebrale System erreicht, fügt eine weitere Ebene hinzu: Im Videoessay verändert der hinzugefügte Kommentar den Inhalt und die Qualität des Bildflusses, indem er über sich selbst theoretisiert und Schleifen einer ständig verarbeitenden Selbstreflexivität im Dialog mit einem Automaten- oder Robotergehirn schafft. Diese konstante und vielschichtige Bewegung des Denkens beschreibt die Art des verarbeitenden Denkvermögens und der automatischen Erkenntnis des Videoessays und seine epistemologischen Eigenschaften. Die Art und Weise, wie der Nooschock das Denken erzeugt, wird im Videoessay intensiviert. Nichtsdestotrotz ist der Videoessay ein postfilmisches Genre, das durch die digitale Zugänglichkeit von bereits existierendem Filmmaterial ermöglicht wird, so dass Zuschauer*in und Filmemacher*in miteinander verschmelzen: Der*die Zuschauer*in fügt dem bereits existierenden Automaten im Schnitt direkt Erkenntnis hinzu.  

Abschließend möchte ich meine Hauptargumente als Vorschlag für eine weiterführende Diskussion zusammenfassen. Die Reflexion über die epistemologischen Eigenschaften des Videoessays könnte von der Diskussion profitieren, die in den letzten Jahrzehnten in der Filmphilosophie über die epistemologischen Eigenschaften des bewegten Bildes geführt wurde. In Videoessays werden wir mit dem ästhetischen Erkenntnisvermögen dieser Bilder konfrontiert, die auf ihre eigene filmische Weise denken, sich aber mit dem ihnen zur Seite gestellten theoretischen Reflexionsstrom vermischen. Das macht den Videoessay zu einer meta-multimodalen Art des Denkens und besonders geeignet für eine selbstreflexive Analyse des Films. Da wir es mit einer neuen, postkinematischen Form des bewegten Bildes zu tun haben, hat die Reflexion über die epistemologischen Eigenschaften des Videoessays das Potenzial, die Zukunft der Filmphilosophie zu bereichern.

  • 1Kathrin Busch: Wissen anders denken, in: Kathrin Busch (Hrsg.), Anderes Wissen, Paderborn 2016, 12.
  • 2Vgl. Robert Sinnerbrink: Philosophy of Film and Film-Philosophy, in: Robert Sinnerbrink, New Philosophies of Film, London und Sydney Bloomsbury Academics 2022 [2011].
  • 3Stanley Cavell: Reflections on a Life of Philosophy: An Interview with Stanley Cavell, in: The Harvard Review of Philosophy, Nr. VII, 1999, 19.
  • 4Gilles Deleuze: Cinema 2: The Time-Image, Minneapolis 1997 [1985], 168.
  • 5Stephen Mulhall: On Film (Thinking in Action), New York 2008 [2001], 4.
  • 6Gilles Deleuze und Félix Guattari: What is Philosophy?, New York 1994 [1991].
  • 7Deleuze: Cinema 2, 168.
  • 8Busch: Wissen anders denken, 12.
  • 9Gilles Deleuze: The ABC primer / Recording 1 – A to F, 1988, C; Transkription: online verfügbar (19/08/2022): https://deleuze.cla.purdue.edu/seminars/gilles-deleuze-abc-primer/lecture-recording-1-f
  • 10Deleuze: Cinema 2, 130.
  • 11Gilles Deleuze interviewed by Gregory Flaxman: The Brain is the Screen. An Interview with Gilles Deleuze, in: Gregory Flaxman (Ed.), The Brain Is the Screen. Minneapolis 2000 [1986], 371.
  • 12Deleuze: Cinema 2, 156.
  • 13Ebd., 156.
  • 14Ebd., 156, dt. Übers.
  • 15Ebd., 156.
  • 16Ebd., 156, dt. Übers.
  • 17David N. Rodowick: Gilles Deleuze’s Time Machine, Durham 1997, 6.
  • 18Jean Epstein: The Intelligence of a Machine, Minneapolis 2014 [1946], xi.
  • 19Teile der vorgestellten Argumente zu Film und Denken bei Deleuze sind in meinem folgenden Artikel veröffentlicht: Christine Reeh-Peters: Film as Artificial Intelligence: Jean Epstein, Film-Thinking and the Speculative-Materialist Turn in Contemporary Philosophy, in: Film-Philosophy Nr. 27.2, 2023, 151–172, doi.org/10.3366/film.2023.0224.

Bevorzugte Zitationsweise

Reeh-Peters, Christine: On the Epistemological Qualities of the Moving Image. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Videography, , https://zfmedienwissenschaft.de/en/online/videography-blog/epistemological-qualities-moving-image.

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