Toward Fewer Images
Philipp Ekardt hat eine beachtliche Studie zu Alexander Kluge vorgelegt. Staunen macht nicht nur das überwältigende Korpus aus Filmen, Fernsehsendungen, digitalen Projekten, theoretischen Schriften und Prosa, außergewöhnlich ist vor allem die eindrucksvolle Stringenz, mit der Ekardt das überaus heterogene Werk ordnet und die ihm eingeschriebenen Prinzipien von Kluges Schaffen herausarbeitet.
Ihren Ausgangspunkt nimmt Ekardts Studie bei der Doppelbedeutung des englischen Wortes «work», das sowohl als Substantiv Werk/Œuvre als auch als Verb das Arbeiten bedeuten kann. Im Deutschen wären äquivalente Wörter «Arbeit» und «Schaffen», wobei als Übersetzung für Ekardts «work»-Begriff hier letzteres gewählt wird. Der Autor hebt damit in seinem Prolog darauf ab, dass Kluges Schaffen weniger als Text-Korpus denn als Schaffensprinzip zu fassen ist: Alexander Kluge schafft mit seiner Montage-Technik «Zusammenhänge»/ «contexts» (xx, passim), die Beziehungen und Differenzen des montierten Materials kenntlich machen, damit multiple historische Fluchtlinien eröffnen und das Publikum zur Konstruktion ‹dritter Bilder›, also zum Reflexionsprozess über Material und Medialität anregen.
Dieses Montage-Prinzip erläutert Ekardt im ersten Kapitel, in dem er es analog zur Architektur als Überlagerung historischer Spuren und Prozesse versteht, die durch die Montage für analytische und historische Erkundungen des Publikums offengelegt werden. Darin sieht Ekardt die Essenz von Kluges Schaffen.
In Kapitel 2 führt der Autor diese Überlegungen fort und zeigt, wie die Montage als Überlagerung konfligierender Bilder zu einem Thema oder Motiv ein ‹Dazwischen› der Bilder, ein ‹drittes› Bild ermöglicht, zu dessen aktiver Imagination das Publikum regelrecht herausgefordert wird. Dieses Prinzip setzt Ekardt in Bezug und in Differenz zu den Montage-Prinzipien und den ihnen eingeschriebenen Theorien von Eisenstein, Vertov und Godard. Spätestens hier wird deutlich, dass Philipp Ekardts Arbeitsstil das von ihm identifizierte Montage-Prinzip von Kluges Schaffen adaptiert, indem er bei allen Verweisen auf andere Künstler_innen oder Theoretiker_innen zugleich die Gemeinsamkeiten und die offenbare, auch historische, Differenz betont: Das Montage-Prinzip, das Ekardt analytisch darstellt, wird von ihm auch praktiziert. Darüber hinaus formuliert er erstens mit Rekurs auf Adorno Kluges «Kritik der Abbildlichkeit» (72), die das Publikum durch die Montage zur Reflexion über die technische Vermittlung anregen soll, und zweitens mit Verweis auf Brecht Kluges «Kritik des Zusammenhangs» (72), die das Publikum in die Position versetzen soll, die Montage selbst kritisch als Ordnungsprinzip zu betrachten, das durch die Montage selbst gestört werden kann.
Nachdem damit die grundlegenden Ausführungen Ekardts zum Schaffens-Prinzip von Alexander Kluge abgeschlossen sind, wird dieses – wiederum frei nach Kluges Montage-Prinzip – in den nachfolgenden Kapiteln in je anderen theoretischen «Zusammenhängen» neu perspektiviert:
In Kapitel 3 analysiert Ekardt minutiös Kluges Fernsehsendungen hinsichtlich ihrer audio-visuellen Gestaltung, Kluges Interviewstils und seiner spezifischen Art des Fragens. Hier werden sowohl die visuellen und akustischen Störungen von Konventionen wie auch die Störungen des Gesprächsflusses durch die Ambivalenz von Kluges Gesprächsbeiträgen aufgezeigt. Diese Störungen deutet Ekardt auf der Grundlage von Kluges und Negts Ausführungen in Geschichte und Eigensinn als Selbstregulierung der «Zusammenhänge». Ein kurzer Rekurs auf die ANT und die Forschung zu assemblages erlaubt Ekardt die Re-Perspektivierung von Kluges Montage der «Zusammenhänge» als «Gegenöffentlichkeit» und als ein dialektischer Prozess, der ohne Auflösung stillgestellt ist.
In Kapitel 4 widmet sich Ekardt dann Kluges digitalen Projekten. Für die dctp-Homepage und seine DVD-Projekte kann er zeigen, dass diese demselben Montage-Prinzip gehorchen, jedoch weniger als Film und Fernsehsendungen einer linearen Logik unterliegen. Stattdessen mache Kluge die Sternenkarte als Netzmetapher und medienhistoriographisches Modell zur Thematisierung historischer «Zusammenhänge» fruchtbar, die eine vergleichsweise größere agency der Nutzenden erfordere. Im Zuge dessen geht Ekardt sowohl auf Benjamins verwandten Begriff der ‹Konstellationen› ein als auch vergleichend auf die Konzeption von Digitalität als «aesthetics of seamlessness» (133). Daraus entwickelt der Autor letztlich eine allgemeine Theorie des Digitalen: Bei der analogen Logik erzeugt demnach die Montage Fragmente aus einem Ganzen, während bei der digitalen Logik Konstellationen aus Fragmenten entstünden.
In Kapitel 5 wendet sich Ekardt einem neuen Thema zu, wenn er die Bedeutung des Gefühls für Kluges Schaffen erforscht und nachzeichnet, wie Kluge und Negt ausgehend von der Unterscheidung von «Kraftgriff» und «Feingriff» (153) eine Theorie der Gefühle (als Sinneseindrücke und ‹Emotionen›) entwerfen. Gefühle fungieren hier als anthropologische Bedingung von «Unterscheidungsvermögen» (154) und damit von Kritik- und Urteilsfähigkeit. In multimodalen «Zusammenhängen» würde das Zusammenspiel der Gefühle laut Kluge und Negt hingegen «Antriebkräfte» (154) hervorbringen, die jedes «Urteilsvermögens» entbehren und daher den Status Quo sedimentierten. Da Kluge Medien als Organisationen der Gefühle verstünde, so Ekardt, verfolge er eine Poetik der Reduktion und Bedeutungsoffenheit, die kleinste Affekte zum Ziel hätte, um dem Publikum ein «Unterscheidungsvermögen» und damit eine Kritikfähigkeit zu ermöglichen.
Die Kapitel 6 und 7 stellen Exkurse zum «Zusammenhang» von Alexander Kluges Schaffen und Caspar David Friedrich bzw. Gerhard Richter dar, die eher als kunsthistorische Geste zu betrachten sind, um Kluge in den Kunst-Kanon einzuschreiben, da die Kapitel die Argumentationen nicht wesentlich bereichern. Nach diesen Exkursen vertieft Philipp Ekardt seine medienhistoriographischen Überlegungen und untersucht in Kapitel 8 den Einsatz von Schrift in Kluges Filmen, Fernsehsendungen und digitalen Projekten: Zum einen werden hier durch die Kippfigur Schrift/ Bild forciert die Themenkomplexe Medialität und Intermedialität verhandelt, zum anderen medienhistorische «Zusammenhänge» hergestellt. Dabei grenzt Ekardt Kluges Verfahren sowohl von der Diskursanalyse nach Michel Foucault wie auch von der Mediengeschichte nach Friedrich Kittler ab. Seine intermedialen Konstellationen könnten vielmehr in Anlehnung an Gilles Deleuze als unabgeschlossene Prozesse der Transformation verstanden werden. Kluges Montage-Prinzip mache so auch historische «Zusammenhänge» erfahrbar als eine Dialektik aus geschichtlich bedingten Bildern und durch Bilder konstituierter Geschichte.
Seine Ausführungen zur Poetik der kleinsten Einheiten verfolgt Ekardt in Kapitel 9 weiter und geht auf Kluges «Dramaturgie der Kürze» (299) und «Nummerndramaturgie» (301) ein. Aus einzelnen Episoden entstünden durch Kluges Montage-Prinzip komplexe «Zusammenhänge» voller Fluchtlinien, die eine stetige Aktualisierung in Form von Rekombinationen, Rekontextualisierungen, Überblendungen, Re-Inszenierungen, Verfremdungen etc. ermöglichten. Diese Poetik der Teilung und der Kürze gehe einher mit einer Reduktion des Produktionsteams und -aufwands, die eine größere Dynamik des Schaffens bezwecke. Beides zusammen sei die Basis für Kluges fortdauerndes Schaffen als stetiges Neu-Montieren, wodurch ein «Zusammenhang» sich niemals verfestigen und repressiv wirken könnte.
Seine Erörterung von Kluges Montage-Prinzip schließt Ekardt in Kapitel 10 mit Überlegungen zu Kluges Begriffen des «Zeitgewinns» (320) und der «Zeitgestalten» (322) ab. Mit Rekurs auf Freud und Marx zeigt er, inwiefern Kluges Montage-Prinzip die Pluralität und Heterogenität von verschiedenen Zeitabläufen betont und historische Momente als deren Interferenzen vorführt. Geschichte wird damit als Ergebnis fortwährender «Umwälzungen» (330) in verschiedenen «Zusammenhängen» in den Blick gerückt.
Wie eingangs erwähnt, darf Ekardts Studie sowohl mit Blick auf Umfang und Heterogenität des Korpus als auch hinsichtlich der Stringenz der Argumentation und der Konsequenz, mit der die Argumentation Facette um Facette bereichert wird, allerhöchsten Respekt einfordern. Allerdings können vier methodische Eigenheiten der Studie das Lesevergnügen als Medienwissenschaftler_in trüben:
Bis zur letzten Seite des Buches bleibt es erstens leider ein Rätsel, warum Ekardt die auteur-Forschung vollständig ausklammert und stattdessen die Doppelbedeutung von work/ Schaffen (s.o.) bemüht. Da die so genannte ‹Handschrift› eines auteur ja keinesfalls als ein stabiles Set an Konventionen zu verstehen, sondern zum einen hochgradig dynamisch ist und zum anderen in diversen Fällen (wie beispielsweise bei Miloš Forman, Wong Kar-Wai oder Jakob Lass) auch eher eine Arbeitsweise ausmacht, ist auch Kluge problemlos als auteur zu fassen. Mit der auteur-Forschung hätte Ekardt sich nicht nur einige umständliche Reflexionen sparen können, er wäre damit auch anschlussfähiger an die film-, fernseh- und medienwissenschaftliche Forschung.
Anschlussfähigkeit ist bei einer medienwissenschaftlichen Lektüre leider ein prinzipielles Frustrationspotenzial: Die Forschung, die Ekardt zur Erhellung von Kluges Schaffen zitiert, besteht mehrheitlich aus solchen Theoretikern, auf die Kluge selbst bereits direkt oder indirekt verwiesen hat. Entsprechend referiert Ekardt diese Forschung auch stets mit Bezug auf Kluges Rezeption. Dieses Verfahren führt in seinen Ausnahmen zu wunderlichen Textpassagen: Beispielsweise geht Ekardt im Zuge seiner Ausführungen zu Störungen als Grundprinzip von Kluges Fernsehschaffen sowohl auf Michel Serres als auch auf Jacques Attali ein, jedoch nur, um kurz danach zu erklären, dass deren Überlegungen Kluges Poetik der Störung nicht adäquat fassen könnten (94-98) – worauf er diese dann wiederum auf der Grundlage der Reflexionen von Kluge und Negt in Geschichte und Eigensinn darlegt. Nicht nur muss man sich bei der Lektüre unweigerlich fragen, warum Serres und Attali denn überhaupt vorkommen; beide werden auch geradezu als Pappkameraden vorgeführt, von denen sich Kluge als auteur und praktizierender Theoretiker abhebt. Dieses Vorgehen ist zwar wunderbar effizient und erlaubt eine wundersame Stringenz des Textflusses, macht die Studie aber zweitens auf frustrierende Weise hermetisch. Trotz ihrer frappierenden thematischen Nähe finden etliche medienwissenschaftliche Forschungsdebatten beispielsweise zu Intermedialität, Medienepistemologie und -archäologie, Taktilität und Multimodalität, Zeiterfahrung und Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Netzmetaphern oder Partizipationskulturen keinen Eingang in Ekardts Ausführungen. Gleichermaßen werden auch medienhistorische Linien wie die Medienreflexionen und Vergangenheitsarbeit im Jungen und Neuen Deutschen Film, die ästhetischen Konventionen und Diskurse der Fernsehkultur der 1950er Jahre, auf die Kluge in seinem eigenen Schaffen wiederholt rekurriert, oder kanonisierte avantgardistische Anstöße im bundesdeutschen Fernsehen (etwa von der Stuttgarter Schule oder von Wolfgang Menge) nicht weiter verfolgt.
Damit praktiziert Ekardt drittens eine heikle Form der auteur-Forschung, da er Kluges Schaffen mit Kluges Selbstaussagen erschließt und erklärt: Kluges theoretische Überlegungen ebenso wie seine Kommentare zu seinem Schaffen stiften zum einen alle Argumentations- und Lektüreschlüssel der Studie und dienen zum anderen als Grundlage für deren theoretische Entfaltung. So entsteht der unvorteilhafte Eindruck, dass Ekardt sich in einem Mikrokosmos Kluge bewegt und trotz all seiner immensen Eigenleistungen eigentlich nur Kluges implizite Poetik ausschreibt. Quasi: Kluge über Kluge – geschrieben von Ekardt.
Gepaart ist dies viertens mit einem überraschenden Essentialismus, der ein Prinzip für Kluges Schaffen identifiziert und dieses für verschiedene Realisierungen in dessen Werk durchdekliniert. Daraus resultiert zwar die beachtliche Stringenz der Studie, allerdings wird dadurch der Fokus auf das sehr vielseitige und heterogene Schaffen von Kluge auch sehr verengt.
Eine interessierte Leserschaft sollte berücksichtigen, dass die Studie deutlich den Fach-traditionen der Kunstgeschichte verschrieben ist und dass zudem ein englischsprachiges Publikum mit einem mutmaßlich geringen Vorwissen zu Kluge adressiert wird. Dies ist jedoch ein großer Vorteil: Dank ihrer sehr akribischen Beschreibungen und ihrer erfrischend gezielten, aber grundlegenden Herleitung von Theorien erfordert Ekardts Studie keinerlei Vorkenntnisse zu Theorien oder zu Kluge und kann dadurch eine breite, heterogene Leserschaft adressieren. Aufgrund der oben beschriebenen sehr restriktiven Ordnungsprinzipien wird sie aber wohl vor allem Kluge-Forscher_innen und -Fans ein großes Lesevergnügen bereiten, für die Ekardt frei nach dem von ihm als Essenz von Kluges Schaffen identifizierten Montage-Prinzip Kapitel über Kapitel, theoretische Überblendung über theoretische Überblendung einen schier unfassbar komplexen «Zusammenhang» in Kluges Schaffen entfaltet, der trotz des sehr repressiven essentialistischen Ansatzes im Konflikt mit der Vielseitigkeit und Offenheit des Materials immer noch sehr viele Fluchtlinien eröffnet, denen man gerne folgen will.
Bevorzugte Zitationsweise
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