Soundscapes eines Putschversuchs von Istanbul bis Ankara
Die außergewöhnlich brutalen Szenen, die sich am 15. und 16. Juli 2016 in Ankara und Istanbul abgespielt haben, machten schnell die Runde. Von Augenzeugenberichten bis hin zu einzelnen, ihrem Zusammenhang entrissen Bildern konnten Mediennutzer_innen, Zuschauer_innen und Leser_innen sehr bald Bilder der Geschehnisse in all ihren blutigen Details wahrnehmen; manche davon waren Fakes – manche nicht.
Stehende und bewegte Bilder und Hunderte von Streams gaben zwar einen lebhaften Eindruck der Ereignisse, ließen aber dennoch viele Menschen in der Türkei rätselnd zurück. Erst später war man in der Lage, eine Art Zusammenschau der Ereignisse mit der Kohärenz einer narrativen Struktur zu verbinden. Am Morgen zeigten die Livestreams des Fernsehens, wie uniformierte Soldaten ihre Hände erhoben und von ihren Panzern kletterten. Bald folgten die schon jetzt ikonischen Bilder öffentlicher Bestrafungen: der obere Torso eines nackten Mannes mit einem Gürtel als Peitsche, die Reihen entkleideter Soldaten, gefolgt von Bildern des Ausdrucks kollektiven Jubels der nunmehr erleichterten Türkei. Der Putsch war vorbei.
Die Einheit des Widerstands gegen den Putsch war einzigartig. Viele der Kommentator_innen beschrieben, dass selbst jene, die gegen die Politik der AKP eingestellt sind, darin übereinkamen, dass eine gewählte Regierung nicht auf diese Weise gestürzt werden dürfe. Und doch wurde bereits während der ersten Verarbeitung der Ereignisse deutlich, dass sich rasch Metanarrative über die Nacht des Putsches und deren Auswirkungen legten. Ein Journalist drückte es in einem Tweet mit einer Dosis Sarkasmus aus:
Der Strom an Kommentaren in Sozialen Medien und in Zeitungen, Kolumnen und im Fernsehen erhielt einen eigenen Namen: «coupsplaining», so @shokufeyesib.
Mit dem ersten Widerhall nach dem Putschversuch sprangen auch Organisationen wie WikiLeaks schnell auf den nach Spektakel gierenden Zug auf. Türkische Journalist_innen und Aktivist_innen fanden rasch heraus, dass die Dokumente des sogenannten «AKPLeaks» bei weitem nicht so relevant waren wie sie beworben wurden. Zeynep Tufekci etwa wies darauf hin: «According to the collective searching capacity of long-term activists and journalists in Turkey, none of the ‘Erdogan emails’ appear to be emails actually from Erdogan or his inner circle.» Stattdessen enthielten die Dateien Information, die geeignet sind, normalen türkischen Bürger_innen (vor allem Frauen) zu schaden.
Es gab neben den Kommentator_innen innerhalb und außerhalb der Türkei keinen Mangel an Erfahrungsberichten aus erster Hand. Zeug_innen wurden für das Fernsehen auf der Straße interviewt und lieferten ihre Sicht der Dinge, während kritische Journalist_innen ihre Sicht kaum noch verbreiten konnten. Zusätzlich zur üblichen Frage an Zeug_innen, was sie gesehen hätten, war aber auch ein anderes Interesse bemerkenswert – die Frage nämlich, wie die Ereignisse klangen. Der Klangteppich des Putsches war selbst ein Spektakel: die Helikopter, die über Istanbul kreisten, die Schüsse verschiedenen Kalibers, die von den schweren Geschützen der Helikopter bis zu Pistolen reichten, vereinzelte Explosionen, Hupen, Sirenen und schließlich das Donnern der F16, die zeitweise so tief flogen, dass ihre Schallwellen Fenster zerspringen ließ. Der Überschallknall hat in der Kriegsgeschichte des 21. Jahrhunderts einen eigenen, besonders dunklen Ort, wie der Kulturtheoretiker Steve Goodman anhand des Verhältnisses von modernen Technologien, Krieg und Ästhetik ausgeführt hat. Wie seit Jahren berichtet wird, verwendet etwa das israelische Militär den akustischen Lärm von Militärflugzeugen als strategisches Instrument in Palästina: «Palestinians liken the sound to an earthquake or huge bomb. They describe the effect as being hit by a wall of air that is painful on the ears, sometimes causing nosebleeds and ‹leaving you shaking inside.›»
Zwischen all den akustischen booms war kurz danach ein anderer Klangteppich in der Stadt vernehmbar: Die Minarette verbanden ihren Gebetsruf mit der Aufforderung, sich auf den Straßen zu versammeln. Eine Reihe von Vermittlungen trugen zur Mobilisierung der Massen bei. Dem türkischen Präsidenten gelang es, sich mittels Facetime in die Liveberichterstattung von CNN-Turk einzuschalten und seine Anhänger dazu aufzurufen, zum Protest gegen den Putsch auf die Straße zu gehen. Das Smartphone, das der Fernsehkommentator in der Hand hielt, ist mittlerweile zu einem begehrten Objekt geworden – 250.000 US-Dollar sollen dafür geboten worden sein. An diesem Anruf ist mehr interessant als der Klingelton eines einzelnen Smartphones. Die Kette an medialen Auslösern reichte von der vorinstallierten App auf dem iPhone zur Videotelefonie über die Infrastrukturen der Moscheen bis hin zu den Menschen auf der Straße, die twitterten, filmten, tippten und in Sozialen Medien posteten. All dies führte zu einer Art rückgekoppelter Informations- und Spekulationssphäre, zu Aktionen und Nachrichten, zu Gerüchten und Zeug_innenschaften. Die mediale Realität dieses Ereignisses wurde also durch mehr gebildet als durch traditionelles Broadcasting und digitale Kommunikation – auch die akustische Umgebung des Gebetsrufs und das Netzwerk der Moscheen war daran beteiligt.
Die Moscheen begannen, den Aufruf der politischen Führung in den Sozialen Medien durch ihre eigenen akustischen Mittel zu verstärken. Ein anderes Netzwerk als nur das der Sozialen Medien war bedeutsam und auch nicht auf das zurückzuführen, was gerne als «Cyberwaffe» der Onlinekommunikation gesehen wird: «But, this is the era of cyberpower. Simply taking over the TV stations is not enough. The Internet is a more powerful means of communication than TV, and it is more resilient — especially with a sophisticated population.» (medium.com) Nichtsdestotrotz war diese Vielfalt interessanter und komplexer als der bloße Begriff «cyber» vermuten lässt.
Der türkische Künstler und Techniker Burak Arikan hat bereits in seinen frühen Arbeiten die urbanen Infrastrukturen Istanbuls anhand der Moscheen, Einkaufszentren und nationalen Gedenkstätten kartographiert. Seine Arbeit Islam, Republic, Neoliberalism (2012) wendet eine kritische Methode des Kartographierens an, um vorzuführen, wie Machstrukturen oftmals unbemerkt in den Alltag eingreifen. Aufbauend auf dieser Forschung hat Arikan drei Karten architektonischer Formen erstellt, die zeigen, wie unterschiedliche Architekturen zusammenwirken. Arikan zufolge präsentieren die Karten «a comparative display of network patterns that are formed through associations linking those architectural structures that represent the three dominant ideologies – Islam, Republic, Neoliberalism – in Turkey.» (ebd.)
Während des Putschwochenendes wurde dieses Netzwerk von Moscheen und Minaretten plötzlich sehr sichtbar – oder vielmehr: hörbar. Während die Ausrufung der regulären Gebetszeiten so sehr in die akustische Infrastruktur der Stadt eingebettet ist, dass man sie kaum mehr wahrnimmt, erinnerten die außerordentlichen Rufe der Imame an die Dichte dieses sozialen und architektonischen Netzwerks. Tausende von Moscheen in Istanbul wurden zu einem akustisch-sozialen Netzwerk. Die durchschnittliche Reichweite von dreihundert Metern ist wichtig, um zu verstehen, wie Architektur die sozialen Netze der Türkei der Gegenwart formt. Im Juli 2016 wurden sie zu einem entscheidenden Kommunikationsrelais zwischen der Privatsphäre der Häuser, den Straßen und den Onlineplattformen, die zur Mobilisierung der Massen beitrugen. Aus einer musikwissenschaftlichen Perspektive wird deutlich, wie Geräusche und Lärm Konflikte zwischen Privatem und Öffentlichem austragen. Dieses Zusammenspiel kann auch als Medienökologie beschrieben werden. Hier haben Kunst und Design die entscheidende Rolle, die Überlappungen von medialen und akustischen Realitäten, von Infrastrukturen und sozialen Medien zeigen zu können.
So wird deutlich, wie Medien in die Ereignisse in der Türkei involviert waren und sind, und dies gibt uns auch Einblick in Verfahren künstlerischer Interventionen, die Medien, Architektur, visuelle Verfahren und auch die akustische Sphäre des urbanen Lebens miteinander verbinden. Und so werden im Falle der blutigen Ereignisse des Putschwochenendes in der Türkei die persönlichen Berichte darüber, was geschehen ist, als Berichte darüber formuliert, was zu hören war – als Nachwirkung der medialen Realität des Putschversuchs.
(2.8.2016)
Aus dem Englischen von Florian Sprenger
Bevorzugte Zitationsweise
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