Social TV
Besonders ergiebig gestaltet sich die Suche nach Publikationen, die sich mit Theoretisierungen des Verhältnisses von Fernsehen und Klasse beschäftigten auch 2014 noch nicht. Dieser Marginalisierung in den Fernsehwissenschaften, die auch im Sammelband Klassenproduktion. Fernsehen als Agentur des Sozialen konstatiert wird steht eine ausgeprägte populäre und mediale Thematisierung von sozialen Differenzen und Fernsehkonsum gegenüber, die Ausgangspunkt einer Mehrzahl der Beiträge dieses Bandes ist.
Der Titel, dem eine gleichnamige Tagung im Juni 2011 am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien und dem Depot (Raum für Kunst und Diskussion) vorausging, verweist zum einen auf die konstruktive und produktive Dimension des Fernsehens in Hinblick auf Klasse («Klassenproduktion») und zum anderen auf die sich darin einschreibenden postfordistischen Verwertungsmechanismen und möglichen Subjektivierungsprozesse auf Basis der im Fernsehen vorgenommenen Organisierung des Sozialen («Agentur des Sozialen»).
In der programmatischen Einleitung beschreiben die Herausgeber_innen Andrea Seier und Thomas Waitz das Verhältnis von Fernsehen zu sozialer Schichtung auf drei Ebenen: «Fernsehen vermittelt ein Bild von und ein Wissen über soziale Schichtung», es «bringt soziale Unterscheidungen hervor, bewirkt diese und lässt sie gesamtgesellschaftlich evident erscheinen» und drittens «bearbeitet Fernsehen soziale Ungleichheit, es ist ‹Werkzeug› und ‹Instrument› des Zugriffs auf diese» (Seier/Waitz, S. 9, Herv. i. Orig.). Was hier bereits sichtbar wird, ist, dass der so prominent im Titel vertretene Begriff «Klasse» eher als thematische Klammer denn als analytische Kategorie dient. «Klasse» bleibt so, durchaus beabsichtigt, konzeptionell unbestimmt und soll eben «nicht als essentialistische Kategorie» verstanden werden, vielmehr möchten die Autor_innen «Klassendifferenzen … in erster Linie als Diskurseffekte – allerdings solche, die in ihrer performativen Dimension kaum zu unterschätzende Folgen bewirken» (Seier/Waitz, S. 13) untersuchen. Viele Beiträge arbeiten daher mit unterschiedlichem Vokabular wie «soziale Schichtung», «soziale Differenz», «soziale Ungleichheit» oder «Prekariat/Prekarisierung». Hier soll nun anhand von zentralen Begriffen aufgeworfene Problemfelder diskutiert werden.
Einige Beiträge beschäftigen sich mit Funktionen und Bedeutungsproduktionen der Konstruktion des «Unterschichten-Fernsehens». Popularisiert durch eine Aussage des Fernsehmoderators Harald Schmidt 2005 beschreibt der Terminus, wie Thomas Waitz herausarbeitet, sowohl bestimmte Fernsehsendungen als auch einen spezifischen (unterstellten) Mediengebrauch. Der Gedanke der sozialen Codierung des Mediengebrauchs findet sich auch in Ralf Adelmanns Analyse der Narrative und Topoi des white trash, in der er feststellt, dass die Tätigkeit des Fernsehens «selbst ein Sediment des aktuellen Konzepts von white trash» (Adelmann, S. 218) darstellt. Das Konzept «Unterschichten-Fernsehen» erfülle auch eine Abgrenzungsfunktion und impliziere somit, so Waitz, ein – jedoch nicht benanntes – «Mittelschichtfernsehen» (Waitz, S. 31). «Unterschicht» sei in diesem Konzept kulturell und nicht ökonomisch definiert; die damit verbundene Vorstellung eines «Unterschichten-Fernsehens» fungiert als «Problematisierung» im Foucault’schen Sinn – also als ein «Ensemble» von Praktiken, die etwas erst zum Gegenstand eines Diskurses machen. Auf den Begriff der «Problematisierung» beziehen sich auch Andrea Seier und Vrääth Öhner in ihren Beiträgen. Seier, die in ihrem Text auch die biopolitischen Effekte und Subjektivierungsprozesse der im (und um) Reality-TV geleisteten immateriellen Arbeit thematisiert, betont, dass die Problematisierungen bestimmter Fernsehformate (in der Fernsehkritik) nicht zuletzt das Publikum bzw. die Publika diskursiv hervorbringen (Seier, S. 41). Vrääth Öhners Beitrag hingegen hat die generellen Bedenken in medientheoretischen Texten und politischer Theorie gegenüber dem Medium Fernsehen an sich zum Gegenstand, wenn er Diskurslinien der «Dystopie Fernsehen» zwischen gouvernementaler Problematisierung und Kulturkritik nachzeichnet.
Damit ist das nächste zentrale, von Michel Foucault geprägte Begriffsfeld angesprochen, mit dem mehrere Texte das Verhältnis von Fernsehen und «Klassenproduktion» bearbeiten: Gouvernementalität, Regierungs- und Selbsttechnologien. Diese stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Konstruktion einer «Unterschicht» – wie es etwa Barbara Eder beschreibt: «Bei der ‹neuen› Unterschicht handelt es sich um eine durch spezifische Bildpolitiken unterstützte Erfindung, die in Zeiten der Ausweitung neoliberaler Regierungstechnologien Vorstellungen wie jene von ‹Eigenverantwortlichkeit› und Leistungsfähigkeit mit dem Zweck der ideologischen Legitimation des Rückzugs des Sozialstaates repräsentieren soll.» (Eder, S. 58) «Unterschicht» diene hier als Abgrenzungsfläche von sich der Mittelschicht zugehörig fühlenden Subjekten (worauf auch Herbert Schwaab und Thomas Waitz in ihren Artikeln hinweisen), wobei die Existenz einer solchen Mittelschicht ebenfalls als «Mythos» (Eder, S. 56) bezeichnet werden kann, betrachtet man Einkommens- und Vermögensverteilungen in Österreich und Deutschland. Eder kommt zu dem Schluss, dass die «Sichtbarmachung der ‹Unteren› … in Mainstream-Medien nicht im Modus der Selbstrepräsentation» (Eder, S. 59) erfolgt und die Vermittlung von Klassenbewusstsein «von oben herab» stattfinde (Eder, S. 61). Hier gäbe es Potenzial zur Diskussion mit dem Beitrag von Andrea Seier, die argumentiert, dass die Kritik am Reality-TV die Teilnehmenden trotz sehr differenter sozialer Hintergründe erst homogenisiert und als Angehörige einer «Unterschicht» konstruiert, jedoch die Empörung über Reality-TV ebenfalls ein «Unbehagen über die im Reality-Fernsehen zu sehenden Wohnungseinrichtungen, Kleidungs- und Lebensstile» und damit eines über das «Sichtbarwerden eines expressiv auftretenden Prekariats» (Seier, S. 45) ausdrückt.
Während also einige der Beiträge eine spezifische Form der Konstruktion von «Unterschicht» bzw. der Sichtbarmachung von prekären Verhältnissen thematisieren, verorten Andrea Braidt und Nicole Kandioler in ihrem Beitrag Klassenzugehörigkeit im closet. Sich auf Eve Kosofsky Sedgwicks Konzept der «Epistemologie des Verstecks» («Epistemology of the Closet») beziehend stellen Kandioler und Braidt zur Serie The L Word – verstanden als eine «diegetische Utopie einer wirkungsmächtigen Homonormativität» (Braidt/Kandioler, S. 180) – fest, dass darin kein Raum für die Thematisierung von Klassendifferenzen besteht. Im nachgereichten Reality-Format The Real L Word, das auch als «retroaktive Authentifizierung» der in der fiktionalen Serie dargestellten Lebensrealitäten diente, werde schließlich eine Epistemologie des «class closets» wirksam, in der das Wissen über Klassenzugehörigkeit beispielsweise in Figuren des Geständnisses oder der Andeutung produziert und verhandelt wurde.
Monika Bernold und Rolf Nohr bringen in ihren Beiträgen den Begriff des «flexiblen Normalismus» (Jürgen Link) ins Spiel. Nohr analysiert anhand von Ratgeber- und Make-over-Formaten, die er als SuSi-TV (nach dem Titel des dritten Bandes von Michel Foucaults Sexualität und Wahrheit: Die Sorge um sich) betitelt, das disziplinierende Moment eines flexiblen Normalismus als jenes, das auf eine «De-Normalisierungsangst» und daraus folgende «Selbstkontrolle und -adaption von Normen, Werten und Ordnungen setzt.» (Nohr, S. 207) Bernold bezieht sich auf Link, um zu argumentieren, dass sich das «Fernsehen in den 1970er Jahren nur langsam und keinesfalls linear zu einem Forum flexibler Normalisierung» (Bernold, S. 97) entwickelte. Während Joan Kristin Bleicher in ihrem Beitrag eine historische Linie der Darstellung des Sozialen im Fernsehen seit den 1930ern nachzeichnet, geht es Monika Bernold im Betrachten des historischen Materials eben nicht um Linearität, sondern um «Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche». Das Scheitern von Formaten könne diese Antagonismen sowie das Fernsehen als Aushandlungsort sichtbar machen. Das erfolgreiche Format Wünsch Dir Was (1969–1972), orientiert an Wunsch und Erfüllung, bediente sich eines Diskurses des «psychologischen Selbst- und Familienmanagements»; die gefloppte Show Sparmeisterschaft von Österreich (1973), ausgerichtet an Aufschub und Verzicht, hingegen «visualisierte und propagierte … verschiedene statistische Techniken der Selbstbeobachtung und der Beobachtung des Sozialen in ökonomischen Kategorien» (Bernold, S. 94). Diese verschiedenen Zugänge verschränkten sich zudem mit verschiedenen Anordnungen bzw. Adressierungen des Publikums, so ging es bei der Sparmeisterschaft um einen kontrollierenden und normierenden Zugriff auf das Publikum, während in Wünsch Dir Was eine «Logik von Aktivierung, Partizipation und Sichtbarkeit» das Verhältnis zu den Fernsehzuschauer_innen bestimmte. (Bernold, S. 95)
Die Frage nach der Adressierung der Zuschauer_innen bzw. des Verhältnisses des Fernsehens zu seinem Publikum steht im Zentrum des Beitrags von Markus Stauff. Markus Stauff argumentiert, dass das Fernsehen als social medium jenseits der ihm oft zugeschriebenen Modi der entweder massenhaften oder intim-privaten Adressierung Möglichkeiten der spontanen Vergesellschaftung, der „As-Sociation“ bereithält. Das Fernsehen vergleiche einerseits verschiedene Möglichkeiten, Teil eines Publikums zu sein – wie beispielsweise Angehörige eines als ‹Weltöffentlichkeit› angesprochenen Publikums in Nachrichten oder Teil einer häuslichen Gemeinschaft auf dem Sofa – und verweise andererseits in seinen Darstellungen immer darauf, dass wir etwas mit anderen gemeinsam sehen (Stauff, S. 120f.). Die Inszenierung des Publikums im Fernsehen mache auch deutlich, dass Fernsehschauen eine Aktivität ist, womit Stauff auch die Grenzziehung zwischen den neuen internetbasierten Medien als social media und dem Fernsehen in Frage stellen möchte. Auch Matthias Thiele untersucht die Inszenierung des Zuschauens im Fernsehen in seiner Analyse der Couch als «Schwellenmöbel». Die Couch erzeuge eine «Spiegelung mit der Außenwelt, mit der Rezeptionssituation der Zuschauer Zuhause auf der Couch» und produziere eine «subjektivierende Kopplung zwischen Zuschauer und Medium» (Thiele, S. 139). An der Couch lasse sich überdies Klasse, Herkunft, Lebensstil und Familienstruktur ablesen.
Ebenfalls mit der Beziehung des Fernsehens zu seinen Zuschauer_innen beschäftigt sich der Beitrag von Herbert Schwaab. Er konstatiert eine «Verdrängung des heterogenen Publikums des Fernsehens» (Schwaab, S. 159), die verschiedene Formen annimmt. So etwa den Versuch durch eine cinematische Gestaltung von TV-Serien ein urbanes, privilegiertes Publikum anzuziehen. Diese Serien werden in der Folge nicht mehr im Fernsehen, sondern über DVD rezipiert, was – wie die Gegenüberstellung von Reality-TV und sogenanntem Quality-TV – eine Abgrenzung vom «regulären» TV-Publikum ermöglicht. Schwaab bezeichnet das Quality-TV, das sich nicht über die «Qualität» seiner Inhalte, sondern seiner Publika definiere (Schwaab, S. 157), überzeugend als «gentrifiziertes Fernsehen». Dieses werde so «zu einem gereinigten Feld der kontrollierten Irritation, das alle Möglichkeiten wirklicher Irritationen brachliegen lässt und von einem zunehmend irritationsresistenten Publikum rezipiert wird.» (Schwaab, S. 160) Gegen den Begriff des «Unterschichtenfernsehens» möchte Schwaab den des «Nebenschichtenfernsehens» setzen, um auf eine zufällige, irritierende, heterogene und überraschende Form der Adressierung des Fernsehpublikums hinzuweisen.
Was in einigen Beiträgen einen Ausgangspunkt der Analyse darstellt, nämlich die Interdependenz sozialer Ungleichheiten mit anderen Unterdrückungsverhältnissen, die auf Rassisierungen, Geschlecht oder Sexualität basieren, lassen andere Texte vermissen. Ebenso wäre in Bezug auf einige aufgeworfene Fragestellungen und Thesen eine stärker historisierende Perspektive lohnend gewesen. So wäre es etwa produktiv, die Frage nach der sozialen Codierung von Zuschauer_innen bzw. eines spezifischen Mediengebrauchs und einer spezifischen Programmauswahl auch in historischer bzw. intermedialer Perspektive zu stellen: Welche Zuschreibungen gab es diesbezüglich beim frühen Fernsehen und welche historischen Kontinuitäten oder Brüche lassen sich feststellen, beispielsweise zu Diskursen des frühen Kinos, des Romans oder des Radios?
Die im Band Klassenproduktion diskutierte Empörung und Kritik des Feuilletons über Reality-TV wurde in der RTL-Show Ich bin ein Star, holt mich hier raus fortwährend durch die Moderator_innen Sonja Zietlow und Dirk Bach bzw. Daniel Hartwich thematisiert und ironisiert. Was nicht zuletzt die Frage aufwirft, wie das als solches konstruierte «Unterschichten-Fernsehen» und dessen Akteur_innen selbst mit den hier thematisierten Zuschreibungen umgehen.
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