Moving Backwards, Pauline Boudry, Renate Lorenz, 2019, Foto: Annick Wetter, Exhibition at 58th Biennale di Venezia, Swiss Pavillon
Rückwärts
Über ein paar Richtungen der Biennale Venedig 2019
Vom Lido aus kommend überquert das Vaporetto die Lagune, um zu den Giardini zu gelangen. Dort sind auch Kreuzfahrtschiffe und Yachten unterwegs. Der Wellengang, der entsteht, wenn die Fahrtrinnen sich kreuzen, macht sofort spürbar, wie klein und offen ein Vaporetto ist. Nichts weiter als eine Fähre, beileibe kein Schutzraum im Unterwegsseins wie ein Kreuzfahrtschiff. An einem Morgen während meines Aufenthalts in Venedig im Herbst näherte sich auf der Überfahrt vom Lido ein silberfarbenes Schiff von unwahrscheinlichen Ausmaßen. Der Schiffskörper wirkte wie aus einem Stück gegossen. Die Fenster oder Luken, die es offenbar hatte, waren verschlossen, die Masten wolkenkratzerhoch – Funkmasten? Ein Flugzeugträger vielleicht. Aber was sollte der hier? Zu glatt, zu seamlessly designt für ein Militärschiff.
Es stellte sich heraus, dass es sich um eine Luxus-Segelyacht handelte, die größte überhaupt. Sie legte an Arsenale an und blieb tagelang Teil der Stadt. Ihr Schatten verdunkelte die Promenade und fiel noch auf die gegenüberliegenden Häuser, die sich dagegen miniaturhaft ausnahmen. Vor der nun ausgeklappten Landungstreppe war eine Absperrung angebracht, die ständig bewacht wurde. Ganz wenige Auskünfte gab das Personal: russischer Eigentümer, deutsche Reederei, seit Monaten unterwegs. Warmes Licht drang nach außen. Auf einem Balkon, der sich aus dem glatten Korpus nun nach außen stülpte, standen Liegestühle. Ich habe nie eine Person dort gesehen. Wahrscheinlich kauften sie an San Marco die Hermès-Läden leer, so stellte ich mir vor. Danach setzen sie sich ins Innere dieses silbernen und schauten auf die verfallenden Häuser Venedigs und die verletzlichen Körper, die sich in den engen Straßen bewegten. Der moribunde Charme einer Welt, die man alt nennt, besonders aus solchen Perspektiven.
Dinge wie diese sind kein bloßes Außen eines Ausstellungsbesuchs, der bei Biennale-Besuchen nicht nur in Venedig ja selbst mit einer Reise verbunden ist. Was auf diesen Reisen passiert, rahmt die Wahrnehmungen der Exponate, und für mich war die Installation Moving Backwards von Pauline Boudry und Renate Lorenz im Schweizer Pavillon wie eine Umkehrung dieser räumlichen Okkupation.1 Tatsächlich arbeitet die Installation mit Formen der Umkehr, Verkehrung und des Rückwärtigem. Das betrifft den Raum, den die Besucher_innen durch einen Seiteneingang betreten, die Blickordnung, weil von einer Bühne aus ein Film zu sehen ist, und auch die Zeitordnung. Die Filmvorführung wird unterbrochen von einem silbern glänzenden Vorhang, der immer mal wieder durch den Raum fährt. Kein Anfang wird hier markiert, an dem sich ein Vorhang zu den Seiten hin öffnet und am Ende der Vorführung wieder schließt, aber es wird auch kein lückenlos montierter Loop produziert, vor dem in die Knie zu gehen und sich hinzufläzen wäre (wie bei Jon Rafman in den Arsenale-Hallen). Der elektronische Sound verwandelt den abgedunkelten Raum sofort in einen Club, in dem normative Zeitlichkeit ja ausgeschlossen ist und Blicke sich in diverseste Richtungen verstreuen. Das Rückwärtsgewandte oder vielleicht auch Inwändige der Installation entsteht aber vor allem durch den Film selbst, der Tänzer_innen zeigt, die ihre Tanzbewegungen mal rückwärts auszuführen scheinen, mal scheint der Film selbst rückwärts zu laufen. Dann wieder ist es die Kleidung, die die Tanzenden – die Sprache drängt mich zur Binarität – ‚falsch‘ oder ‚anders‘ herum tragen: Schuhe, bei denen die Spitze nach hinten zeigt oder die zwei Spitzen haben. Oder eine Perücke, die wie eine Epaulette auf der Schulter einer Uniform angebracht ist. Das alles erzeugt zweifellos einen Sog oder flow, der von einem Begehren des Blickens und des Tanzens getragen wird. Immersionseffekte oder andere Fantasien der Selbstauflösung stellen sich dennoch nicht ein, zu sehr ist dieser Raum der backwardness verbunden mit einer gespannten Aufmerksamkeit und einem Wissenwollen.
Heather Love hat in Feeling Backward 2Rückwärtsgewandtheit als etwas beschrieben, das in die Idee des Fortschritts tief eingelassen ist. Der Normativität, nach vorne zu schauen und dem Vergangenen nicht nachzuhängen, die in Affektökonomien ebenso gilt wie im Fehlermanagement, setzt Love das Plädoyer entgegen, sich den Gefühlen der Vergangenheitsverhaftung, den vergangenen Leiden und Verletzungen zu widmen, sie zu verstehen, anstatt sie sofort überwinden zu wollen. Love schreibt das im Hinblick auf die körperlichen und seelischen Kosten der Homophobie in der Geschichte queerer Leben. Politik der Gefühle zu betreiben heißt hier, das immer individuelle Sich-schlecht-Fühlen in einem größeren sozialen und kulturellen Zusammenhang verstehbar zu machen, der mit Ausgrenzungen und Urteilen einhergeht, an denen nur gelitten werden kann.
Die queeren Tänzer_innen bei Baudry/Lorenz erinnern sich z.B. an die kurdische Frauenguerilla, die Mitte der 1990er Jahre die Schuhe umgekehrt anzogen, um die Spuren die diese hinterließen, unlesbar zu machen. Sie spielen an auf Drag Performances, auf Hip Hop Culture, und performen tänzerisch ganz verschieden – besonders toll fand ich Julie Cunnigham, die professionell mit der Merce Cunningham Dance Company tanzt, und Werner Hirsch, der nur gelegentlich als Tänzer auftritt. Sich rückwärts in die Zukunft zu bewegen, den Blick auf das Vergangene gerichtet, um die Gegenwart zu transformieren, ist, was hier vorgestellt und vorstellbar wird.
Wenn ich an die Biennale zurückdenke, dann auch an die Rotunde im zentralen Pavillon der Giardini mit Arbeiten von Danh Vo und einem Hologramm von Cyprien Gaillard. Jede einzelne von Danh Vos kleinen Serien erweist je einer Person Reverenz – seinem Neffen mit fotografischen Rückenporträts, seinem Lehrer Peter Bonde mit Spiegelmalereien, dem Bauhaus-Studenten Franz Ehrlicher, der als Gefangener in Buchenwald den Schriftzug am Eingangstor gestalten musste, und seinem, Danh Vos, Vater, der Ehrlichers Schriftzug nachzeichnete. 3Das kommt alles ganz beiläufig daher, aber die wenigen Formen und Materialien entwickeln sofort ein Beziehungs- und Erinnerungsnetz. Darin zappelt oder tobt Gaillards L'Ange du foyer eine Variante von Max Ernsts Hausengel von 1937, den Ernst unter dem Eindruck des spanischen Bürgerkriegs gemalt hat. Voller Referenzen und Reverenzen ist auch dieses 3D-Hologramm. Es ist auch der Engel der Geschichte, der hier tanzt und der vom Sturm des Fortschritts „unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt“ getrieben wird.4
In den Arsenale, ganz hinten im Park, ist Gaillards Video Ocean II Ocean zu sehen, in dem es um Fossilien im Marmor der russischen U-Bahn geht, das mit Footage von der Versenkung von Waggons der New Yorker U-Bahn im Meer zusammenmontiert ist.5 Wie lang würde es brauchen, bis die Luxus-Segelyacht am Grunde der Lagune zerfällt? Wie hoch steigt das Wasser in den Gassen Venedigs noch an, wenn diese riesigen Metallkörper voller fossiler Materialien sich weiter in die Kanäle hinein, vorwärts drängen?
- 1Moving Backwards, Regie: Pauline Boudry, Renate Lorenz, 2019, 20 Min. Choreografie und Performance: Julie Cunningham, Werner Hirsch, Latifa Laâbissi, Nach, Marbels Jumbo Radio. Kuratorin des Schweizer Pavillons: Charlotte Laubard.
- 2Heather Love: Feeling Backward. Loss and Politics of Queer History, Cambridge, London 2007.
- 3Danh Vo: Suum cuique, 2019. Gemälde von Peter Bonde, Fotografien von Gustav (Neffe des Künstlers), Bleistift auf Papier von Phung Vo (Vater des Künstlers) und Stühle nach Entwurf von Franz Ehrlich.
- 4Walter Benjamin ausgehend von einem Bild von Paul Klee: Über den Begriff der Geschichte, in: Walter Benjamin: Gesammelte Werke. Band I/2, Frankfurt a. M. 1991, S. 690–708.
- 5Cyprien Gaillard: Ocean II Ocean, 2019. HD-Farbvideo mit Spund, 12 Min. Loop.
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