Direkt zum Inhalt
Open-Media-Studies-Blog

Welche Daten? Welche Literacy?

Ein Kommentar zur Data-Literacy-Charta des Stifterverbandes von Marcus Burkhardt, Katja Grashöfer, Shintaro Miyazaki und Andreas Weich

13.12.2021

Die Data-Literacy-Charta des Stifterverbandes

Die Data-Literacy-Charta, die wir folgend aus einer dezidiert medienwissenschaftlichen Perspektive diskutieren und ergänzen möchten, hat ihre Kreise gezogen: Im Januar 2021 vom Stifterverband veröffentlicht, ist die Charta bislang von über 40 Verbänden, Institutionen, Universitäten und Hochschulen sowie 175 Einzelpersonen unterzeichnet worden.

Der Stifterverband wirkt als Förderinstitution in der deutschen Hochschullandschaft. Er definiert sich in seinem Online-Auftritt als eine „Gemeinschaftsinitiative von Unternehmen und Stiftungen, die als Einzige ganzheitlich in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Innovation berät, vernetzt und fördert“.1 Unter seinem Dach werden Kooperationen angestoßen und Fördergelder vergeben. Er „macht sich für autonome Hochschulen in einem wettbewerblich ausgerichteten System stark“.2 Seine Initiativen erlangen Reichweite, so auch die Data-Literacy-Charta. Sie umfasst Forderungen und Positionen zum verantwortlichen Umgang mit Daten und betont dafür die Bedeutung von Bildung, genannt ‚Datenkompetenz‘.3 Dem folgend ist der zentrale Anspruch der Data-Literacy-Charta, „ein gemeinsames Verständnis von Datenkompetenzen und deren Bedeutung für Bildungsprozesse“ zu formulieren.4 Im Mittelpunkt steht dabei die Idee der Vermittlung einer umfassenden Data Literacy als einer Art Bündel von Kompetenzen, „die für alle Menschen in einer durch Digitalisierung geprägten Welt wichtig sind“.5

Dieses Ansinnen ist durchaus begrüßenswert und verdient breite Unterstützung. Kompetenzen zur Bewertung von und zum Umgang mit den Komplexitäten der digitalen Welt sollten fraglos Bestandteil einer zeitgemäßen Allgemeinbildung sein.6 Dennoch werden durch die Charta auch problematische Punkte offenbar, die immer wieder im Diskurs um Daten und Datenkompetenzen auftauchen: Ein Unterfangen, welches vor allem und in erster Linie auf den instrumentellen Wert von Daten fokussiert, muss notwendig zu kurz greifen. Stattdessen sollte die Forderung nach einer tatsächlich ‚umfassenden‘ Data Literacy, den Stand der Debatten und Erkenntnisse über das Leben und Handeln in (Daten-)Gesellschaften widerspiegeln.

Daten denken. Medienwissenschaftliche Ergänzungen

Wie, so wollen wir fragen, ließe sich die Data-Literacy-Charta aus unserer fachwissenschaftlichen Sicht weiterdenken? Erstens erweist sich der zugrunde gelegte Datenbegriff als vereinfacht: Er ist um historische, ästhetische, kulturelle, soziale und politische Ebenen verkürzt, die im medienwissenschaftlichen Diskurs seit Jahren thematisiert werden. Und diese Problematik der Vereinfachung schreibt sich fort: Die mangelnde Komplexität im Datenbegriff führt dazu, dass die benannten, fehlenden Ebenen auch in Bildungskontexten unberücksichtigt bleiben. Zweitens suggeriert dieser Datenbegriff eine ausschließlich individuelle Verantwortung im Umgang mit Daten und betont zugleich die Innovationsorientierung in der Nutzbarmachung von Daten. Demgegenüber greift die medienwissenschaftliche Debatte Daten auch als gemeinschaftliches, sozial zu verhandelndes Gut auf, für das es kollektive Verantwortlichkeiten gibt (u.a. in politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen). Derart perspektivierte Fragen lauten deshalb: Welchen Datenbegriff nutzen wir mit welchen Implikationen? Welche weiteren Forderungen und Maßnahmen ergeben sich daraus? Welche Bildung wollen wir?

Wir sind uns dessen bewusst, dass die Textsorte ‚Charta‘ per se einem sprachlichen Duktus folgt, der eine Form der Dichte und Geschlossenheit verlangt, die zu Pointierungen verleitet. Dennoch bleibt der Eindruck: Data Literacy wird hier in einer Art und Weise definitorisch gesetzt, die Fragen, Probleme und Herausforderungen als Teil von Datenkompetenzen ausblendet, statt sie als primäres Ziel derselben zu begreifen.

Angesichts der Wandelbarkeit des Digitalen erweist sich dies als problematisch. Es mag stimmen, dass Daten heute eine zentrale Stellung in digitalen Gesellschaften einnehmen und es mag auch stimmen, dass ihre Relevanz künftig eher zu- als abnimmt. Digitale Technologien, dies zeigt ihre Geschichte, haben sich als äußerst variabel erwiesen. Der disruptive Charakter der sogenannten Digitalisierung, die kein Ende kennt, sondern sich als permanenter Transformations- und Innovationsprozess quer durch die mittlerweile 80-jährige Geschichte des Computing zieht, umgeht lineare Fortschrittsnarrative.7 Infolgedessen ist es keineswegs ausgemacht, dass sich die Rolle von Daten in und für digitale Technologien und daran anschließend ihre Rolle in und für Gesellschaften nicht erneut ändert. Dies aber lässt sich kaum beurteilen, wenn der Fokus allein auf Daten als isolierte Einheiten gerichtet wird.

Mehr als Daten

Eine Data Literacy, die nicht in eine breitere Media Literacy eingebettet ist, welche sensibel für die historische Variabilität von Praktiken und Techniken des Computings und der Verdatung ist, muss sich notwendig in kurzer Zeit selbst als überholt erweisen. Kurzum: Data Literacy allein kann dem Anspruch nicht genügen, all jene Kompetenzen zu vereinen, die für „Menschen in einer durch Digitalisierung geprägten Welt wichtig sind“.8 Daten sind fraglos ein wichtiger Pfeiler, auf der unsere heutige digitale Welt ruht, sie bilden aber eben nicht das gesamte Fundament. Stattdessen schlagen wir eine Erweiterung des Fokus von Datenkompetenz in Richtung einer Medienkompetenz vor, die sich allerdings gerade nicht als ‚umfassend‘, sondern als kritisch teilnehmend begreift, weil auch sie sich niemals erschöpfen kann.

Die abgebildete Datenkarte dokumentiert das Verbrechen an Symcho Dymant: seine Inhaftierung im Konzentrationslager Buchenwald. An diesem Dokument, das heute im United States Holocaust Memorial Museum aufbewahrt wird, zeigt sich die Unerlässlichkeit der Kontextualisierung von Daten jenseits eines Narrativs, das Daten zum ‚Rohstoff des 21. Jahrhunderts‘ stilisiert.
„Buchenwald Concentration Camp Prisioner Data Card for Symcho Dymant”. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Buchenwald_Data_Card_95314.jpg

Vielfältige Erscheinungsweisen erfordern eine weitgefächerte Medienkompetenz

Daten werden für den Großteil der Benutzer_innen zumeist in Form alphanumerischer Darstellungen auf Bildschirmen angezeigt, d.h. sie bieten sich als lesbare Objekte an, doch ihre technologische Materialität ist mannigfaltig. So ist es kein Zufall, dass digitale Daten nicht nur auf Audio-Kassetten, Disketten, Festplatten, UBS-Sticks oder sogar in DNA gespeichert werden können. Daten werden auch wie beim WLAN, Mobilfunk oder via Bluetooth per Luft als für Menschen unlesbare, elektromagnetische Wellen übertragen. Dabei sind sie nicht nur technologisch formatiert. In Daten sind darüber hinaus auch Interessen und Vorurteile, d.h. soziopolitische Umstände, eingeschrieben. In diesem Sinne reicht es nicht, eine Lese- und Textkompetenz (= literacy) zu fordern, sondern es sind weitgefächerte technologische, ästhetisch-gestalterische und geistes- und sozialwissenschaftlich informierte Medienkompetenzen nötig.

  • Daten müssten erstens nicht nur lesbar gemacht werden, sondern auch erfahr-, spür- oder hörbar. Dazu sind viele Medien notwendig. Buchstaben und Zahlen auf Bildschirmen oder gedruckt zu lesen, reicht alleine nicht.
  • Zweitens sind Daten stets Teil eines Netzwerks und instrumenteller Gefüge des Verwertens, Überwachens und Regierens. Daten sind gesellschaftlich verflochten.
  • Drittens müssen historische Varianten des Datenkonzepts berücksichtigt werden. Daten gab es bereits vor der Digitalisierung. So bieten z.B. Inventarlisten, Tabellen, Formulare, Patientenblätter oder Häftlingspersonalbögen ebenfalls Daten.
  • Viertens zeigt der historische Blick auf andere Medien, beispielsweise audiovisuelle, analoge Medien wie den Film oder das Radio und deren Praktiken, die historisch gewachsene Kontingenz aktueller Datenpraktiken.

Den Blick für die Besonderheiten wahren. Wider eine vorschnelle Universalisierung

In der Data-Literacy-Charta des Stifterverbands zeigt sich, wie dargelegt, eine Tendenz zur Universalisierung des zugrunde gelegten Datenverständnisses, das zudem einer Perspektive auf Daten entspringt, die sich als verkürzt erweist: Ohne den Begriff der Daten näher zu bestimmen, werden Daten ausschließlich als etwas in den Blick genommen, mit dem ein ,Ich' etwas macht. Dieses ‚Machen mit Daten‘ wird im Rahmen der Charta entlang der vier Modalitäten des Wollens, Könnens, Dürfens und Sollens ausbuchstabiert. Damit umfasst das vertretene Konzept der Data Literacy nicht nur Kompetenzen zum handhabenden Umgang mit Daten, sondern auch Kompetenzen zur Bewertung von Nutzungsformen von Daten. Im Vordergrund steht dabei durchweg ein instrumentelles Verständnis von Daten. Demgegenüber ist es uns ein Anliegen, die Vielfalt von Daten und die vielfältigen Weisen der Verwicklung von Daten und Gesellschaften zu unterstreichen. Neben der Frage des kompetenten Handelns mit Daten erweist es sich als eine der vordringlichsten Fragen von digitalen Gesellschaften, was es heißt in, als und durch Daten zu sein. Dies hat auch die Corona-Pandemie eindringlich vor Augen geführt, in der Daten zugleich wichtige Orientierung boten, aber auch Unsicherheiten manifestierten und zum situierten Erwerb ganz eigener Data Literacies Anlass gaben.9

Digitale Daten berühren und strukturieren das Leben in digitalen Gesellschaften auf eine fundamentalere Weise als in dem Datenverständnis der Data-Literacy-Charta zum Ausdruck kommt. Hiervon zeugen Begriffe wie z.B. Daten-Ich oder Data Double und anhaltende Kontroversen über die asymmetrische Machtverteilung von Verdateten und Verdatenden. Die Zuspitzung des Datenbegriffs als Problem der Privatheit verharmlost die Problematik, die mit der zunehmenden Digitalisierung des Lebens einhergeht, als eine einzelner Individuen. Diese isolierte Betrachtung der Benutzer:in als Subjekt verliert das Gemeinschaftlich-Gesellschaftliche aus dem Blick. Welche Verantwortung tragen gesellschaftliche Institutionen? Welche Verantwortung kommt wirtschaftlichen Sektoren zu? Welche Aufgaben fallen in den politischen Bereich (z.B. der Regulierung)?

Sich bereichern lassen: Medienwissenschaftliche Expertise von Beginn an

Reflexionsfähigkeit als Kompetenz im Umgang mit Daten wird in der Charta unter der „gesellschaftlich-kulturellen Perspektive“ angeführt,10 bleibt aber unterbestimmt und randständig. Die damit verknüpfte Frage „Wozu ist es zu tun?“ beschränkt sich beim Datenhandeln auf eine Reflexion der Ziele und bleibt damit einem instrumentellen Horizont verhaftet.11 Sie leistet somit solutionistischen Perspektiven Vorschub, die insbesondere im Kontext von Big-Data-Phantasmen davon ausgehen, dass sich Probleme über die Erhebung und Auswertung von Daten vollumfänglich modellieren und lösen lassen. Andere Arten der Problematisierung und Bearbeitung von Phänomenen werden dadurch nicht ausreichend berücksichtigt. Über eine instrumentelle Datenkritik hinausgehende Fragen, die eine Reflexionskompetenz beinhalten muss, lauten beispielsweise: Welche Konsequenzen hat die Verdatung im Hinblick auf Praktiken, Subjekte und die Generierung von Wissen? Welche Diskurse und Machtverhältnisse werden reproduziert?

Dass diese Fragen nicht aufgeworfen werden, lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass mit der Trias „anwendungsbezogene Perspektive“, „technisch-methodische Perspektive“ und „gesellschaftlich-kulturelle Perspektive“ implizit die sogenannte Dagstuhl-Erklärung als strukturierenden Grundlage gewählt wurde.12 Gerade die darin angelegte instrumentelle Perspektive sowie die Unbestimmtheit der Rolle von Reflexion waren ein Anlass für die unter Beteiligung der Medienwissenschaft erarbeitete Erweiterung in Form des Frankfurt-Dreiecks, in dem Aspekten wie gesellschaftlich-kulturellen Wechselwirkungen, medialen Strukturen und Subjektivierungsprozessen ebenso wie der Trias aus Analyse, Reflexion und Gestaltung ein zentraler Stellenwert zugesprochen wird.13 Eine Charta, die auf diesem Fundament aufgebaut hätte, wäre eine andere geworden, die den hier formulierten Ansprüchen hätte gerecht werden können. Vor diesem Hintergrund ist offensichtlich, dass die Medienwissenschaft entgegen ihrer nominalen Nennung und Einordnung in der Charta nicht (nur und nicht einmal in erster Linie) der anwendungsbezogenen Perspektive zuzuordnen ist, sondern vielfältige Theorien und Herangehensweisen zur Analyse und Reflexion datenbezogener Phänomene zu bieten hat, die Papiere wie die Data-Literacy-Charta bereichern würden. Mit der im Entstehen begriffenen EdTech-Charta bietet sich eine neue Chance, diese Perspektiven zu berücksichtigen.

  • 1https://www.stifterverband.org/ueber-uns
  • 2a.a.O.
  • 3Die Autor_innen der Charta entwickeln ihre Forderungen ausgehend vom vier Leitfragen: „Was (1) will, (2) kann, (3) darf, (4) soll ich mit Daten machen?“ Im Anschluss stellen sie „Leitprinzipien“ hinsichtlich „Data Literacy als Schlüsselkompetenz“ auf: Gefordert werden allgemein zugängliche Bildungsprozesse im Sinne eines lebenslangen Lernens von Data Literacy in transdisziplinärer Hinsicht (genannt werden die Perspektiven: anwendungsbezogen, technisch-methodisch, gesellschaftlich-kulturell, didaktisch/erziehungswissenschaftlich vermittelnd); zwei weitere Forderungen beziehen sich dann nicht mehr auf strukturelle Merkmale der Vermittlung von Data Literacy, sondern auf inhaltliche Aspekte. Data Literacy müsse „den gesamten Prozess der Erkenntnis- und Entscheidungsfindung mit Daten systematisch abdecken“ sowie „Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Werthaltungen für einen bewussten und ethisch fundierten Umgang mit Daten umfassen“. (https://www.stifterverband.org/charta-data-literacy)
  • 4https://www.stifterverband.org/charta-data-literacy
  • 5a.a.O.
  • 6Dies belegen auch vorangegangene Initiativen, die in die Erarbeitung spezifischer Modelle mündeten: So verdankt sich die sogenannte ‚Dagstuhl-Erklärung‘ einer Debatte zu Fragen der Medienbildung zwischen Informatiker_innen, Medienpädagog_innen und Vertreter_innen aus Wirtschaft und Schulpraxis. Das Modell wurde in der fortgesetzten Diskussion unter medienwissenschaftlicher Beteiligung ergänzt. Die Ergebnisse haben Eingang in das Nachfolgemodell des ‚Frankfurt-Dreiecks‘ gefunden.
  • 7Hier schließen viele Debatten mit medienwissenschaftlicher Beteiligung an, beispielsweise rund um den Begriff der Postdigitalität, der in den letzten Jahren insbesondere in internationalen kritischen Diskursen zu EdTech und digitalen Medien und Bildung eine Renaissance erfahren hat, dabei den traditionell auf ästhetische Fragen bezogenen Fokus überschreitet und stattdessen die allgemeine Verflechtung digitaler Medien mit kulturellen Praktiken und sozialen (Macht‑)Verhältnissen thematisiert.
  • 8https://www.stifterverband.org/charta-data-literacy
  • 9Timcke, Marie-Louise, und Birgit Schneider. „Welt aus Daten. Datenjournalismus während der Corona-Pandemie“. Zeitschrift für Medienwissenschaft 13, Nr. 2 (2021): 102–14. https://doi.org/10.25969/mediarep/16793.
  • 10https://www.stifterverband.org/charta-data-literacy
  • 11a.a.O.
  • 12https://dagstuhl.gi.de/dagstuhl-erklaerung Vgl. Fußnote 6.
  • 13https://www.keine-bildung-ohne-medien.de/frankfurter-dreieck/

Bevorzugte Zitationsweise

Burkhardt, Marcus; Grashöfer, Katja; Miyazaki, Shintaro; Weich, Andreas: Welche Daten? Welche Literacy? . Ein Kommentar zur Data-Literacy-Charta des Stifterverbandes von Marcus Burkhardt, Katja Grashöfer, Shintaro Miyazaki und Andreas Weich. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Open-Media-Studies-Blog, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/open-media-studies-blog/welche-daten-welche-literacy.

Die Open-Access-Veröffentlichung erfolgt unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 DE.