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Open-Media-Studies-Blog

Den Rahmen Sprengen. Open Access auf der Promotionsebene

Anke Finger und Virginia Kuhn zu digitalen Dissertationen und multimodalen Publikationsformen

11.3.2022

Der folgende Beitrag erschien zuerst unter dem Titel «Burst the Frames: Open Access at the Dissertation Level» auf dem Open Book Publishers Blog anlässlich der Buchpublikation Shaping the Digital Dissertation: Knowledge Production in the Arts and Humanities, hg. von Virginia Kuhn und Anke Finger. Für den Open-Media-Studies-Blog wurde er von Anke Finger übersetzt.

In den letzten zwei Jahren hat die Corona Pandemie, neben vielen anderen Gebieten und Aspekten des öffentlichen Lebens, auch den Bildungssektor auf der Hochschulebene radikal beeinflusst. US-amerikanische Colleges und Universitäten erleben tiefgreifende Veränderungen aufgrund sich wandelnder öffentlicher Meinungen. Das betrifft einerseits die öffentliche Unterstützung von Higher Education, aber auch Studierendengenerationen, die zunehmend weniger traditionell und homogen sind. Angesichts der lang überfälligen Wahrnehmung von ethnischen, ökonomischen und politischen Spannungen weltweit bemühten sich schon vor Beginn der Pandemie viele der Institutionen darum, etwa die Besetzung innerhalb der Fakultät zu diversifizieren. Diese Aspekte stellen den Hochschulsektor vor grundlegende Fragen. Covid-19 machte diesbezüglich noch weitere Probleme sichtbar. Einerseits beleuchtete die Umstellung auf die virtuelle Lehre erstarrte Praktiken innerhalb vieler bildungstechnischer Infrastrukturen, andererseits zeigte sich sehr deutlich, dass auch die Interaktion zwischen Dozierenden und Studierenden sowie der Zugang und die Angemessenheit der Lehr- und Lernmaterialien aktualisiert werden mussten.

An dieser Stelle gelangen open access und die Digitalisierung diverser akademischer Arbeiten in den Fokus. Damit verbunden sind Kreativität und Experimente sowie Kooperation und Dialog. Die überholten pädagogischen und wissenschaftlichen Modelle werden entsprechend hinterfragt und die Institutionen sind nun aufgefordert, von diesen neuen Erfahrungen zu lernen und Aspekte der virtuellen Lehre und engagierter Forschung so zu integrieren, sodass die Möglichkeiten für schnelle Veränderungen tatsächlich auch umgesetzt werden. Solche Veränderungen sind besonders wichtig auf der Ebene der wissenschaftlichen Ausbildung, die als Inkubator für grundlegend neue Wissenschaft im 21. Jahrhundert dienen könnte: digitale Dissertationen.

Wenigen ist bekannt, dass digitale Dissertationen schon seit mehr als zwei Jahrzehnten verfasst und zunehmend als wissenschaftliches Projekt von ehrgeizigen und versierten Nachwuchswissenschaftler_innen angestrebt wird. Auch wenn einige Verlage schon multimodale, hybride oder E-Versionen von traditionellen, linearen Textprodukten auf Papier mit einbezogen haben, so steht die Academia wissenschaftlicher Innovation auf Promotionsebene und jenseits der Promotion noch immer skeptisch oder gar ablehnend gegenüber. Es gibt folgendes Problem: ein heikler Aspekt bei open access und Veröffentlichungen mit digitalen Medien sind die Evaluierungsstrategien bzw. das Fehlen derselben. Die Beurteilung von Wissenschaft, die besondere Formen für die Vermittlung von speziellen Ideen und Ergebnissen anwendet, erweist sich als kompliziert, da bisher wenige Modelle dafür existieren bzw. komplett zugänglich sind. Es gibt jedoch großen Bedarf an diesem evaluativen Aspekt, besonders da weiterhin fehlgeleitete Auffassungen dahingehend bestehen, dass Arbeiten, die online gestellt werden, als «publiziert» gelten. Damit einher geht die Annahme, dass jede_r so ziemlich alles digital veröffentlichen kann.

Nicht ganz. Auch wenn blind peer review mittlerweile kritisiert wird, wegen der oft gar nicht so blinden oder nur relativ blinden Evaluierung, so ist doch die Bewertungsarbeit eines Verlages eine derjenigen Aufgaben, die die Akademie relativ gut bewältigt: die Einschätzung von akademischen Veröffentlichungen seitens Fachkolleg_innen hilft in jedem Fall, deren wissenschaftliche Tiefe und die Einbettung in einen aktuellen wissenschaftlichen Dialog zu sichern. Das Problem in Bezug auf digitale, multimodale Veröffentlichungen besteht darin, dass sich die meisten etablierten Wissenschaftler_innen – und das schließt viele Promotionsbetreuer_innen mit ein – neu mit der digitalen und digitalisierten Wissenschaft auseinandersetzen müssen und sich eher weniger mit multimodalen Kompetenzen auskennen. Wie Cheryl Ball in der nachstehenden Grafik demonstriert (mit Storyspace für ihre eigene Dissertation entworfen), so eröffnen sich diverse Bahnen für den Leseprozess und für die Interpretation und durchbrechen grundlegend die Teleologie jedes gedruckten Textes.

 

Die folgenden Screenshots unserer Beispiele, allesamt Fallstudien von Promovend_innen, zeigen außerdem, auf welche Art und Weise digitale Dissertationen herkömmliche Dissertationsformate herausfordern und aktualisieren. Dies betrifft Inhalte, Zugänglichkeit, Dialog, Nachhaltigkeit und Kreativität.

Cécile Armand, Mad Space: https://madspace.org/cooked/Timelines

Sarah-Mai Dang, Film, Feminismus und Erfahrung. Chick Flicks oder das Genre des gegenwärtige Woman’s Film: https://www.oabooks.de/dissertation/web/2-yes-we-can/

Lisa Tagliaferri, Io, Caterina. Mapping and Modeling Catherine of Siena, Poetic Mystic and Community Builder: https://caterina.io

Christopher Williams, Tactile Paths: http://www.tactilepaths.net

Anthony Masure, Le design de programme: http://www.softphd.com/

All diese Beispiele bezeugen deren Zugänglichkeit (sie sind online einzusehen), deren Kreativität (sie bieten Forschung, Diskussion und Analyse in verschiedenen Modi, einschließlich Text, Datasets, Datenvisualisierung, Audio, Film) und sie suchen den Austausch mit ihrer Leser_innenschaft, nicht nur mit einem Promotionskomitee.

Warum sind diese öffentlicheren Texte so wichtig? Zum Ersten verkörpern sie originelle Wissenschaft auf konzeptueller und formaler Ebene. Bei der Weiterentwicklung eines jeden Gebietes werden notwendigerweise grundlegende Positionen hinterfragt. Im Falle der Geistes- und Kunstwissenschaften kann die Form ganz genauso wesentlich sein wie der Inhalt. Darüber hinaus ermöglichen diese öffentlicheren Texte den Kontakt und Austausch mit Leser_innen außerhalb der Wissenschaft und bieten daher vielleicht und hoffentlich eine Gelegenheit, die öffentliche Unterstützung für die Hochschulforschung zu bestärken. Die Verantwortung liegt zum Teil auch bei uns, der Fakultät. Der öffentliche Spott über hoch spezialisierte Forschung hat uns als Wissenschaftler_innen vielleicht davor zurückschrecken lassen, unsere Arbeit der globalen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Komplexität der high theory, die einen Großteil unserer Forschung durchdringt, eignet sich meist nicht für die Soundbyte-Welt der sozialen Medien. Dazu kommt, dass viele von uns, die sich mit Thematiken wie Ethnie und race, Gender und Klasse, also etwa Intersektionalität beschäftigen, sich wehren, zu «TV-Expert_innen» zu mutieren, die dann diffizile Probleme in irritierend kurzsichtige, twitter-gerechte Zitate packen. Manche unserer wissenschaftlichen Kolleg_innen lassen sich tatsächlich haftpflichtversichern, sollten sie sich diversen social media shitstorms stellen müssen, die zuweilen entstehen, wenn wissenschaftliche Arbeit falsch zitiert wird.

Grundlagenforschung jedoch ist absolut notwendig, einschließlich Forschung zu schwierigen Themen und es ist ebenfalls absolut notwendig, die Öffentlichkeit in diese Forschung einzubeziehen. Digitale Wissenschaft, angefangen mit digitalen Dissertationen, ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Wenn wir diese Verbindung komplett verlieren, wenn sich das Misstrauen auf beiden Seiten, der akademischen und der öffentlichen, weiter verhärtet, verlieren wir ein entscheidend wichtiges Gemeinschaftsgut: die gemeinsame Erschaffung von Dialog und Wissen.

Bevorzugte Zitationsweise

Finger, Anke; Kuhn, Virginia: Den Rahmen Sprengen. Open Access auf der Promotionsebene. Anke Finger und Virginia Kuhn zu digitalen Dissertationen und multimodalen Publikationsformen. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Open-Media-Studies-Blog, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/open-media-studies-blog/den-rahmen-sprengen-open-access-auf-der-promotionsebene.

Die Open-Access-Veröffentlichung erfolgt unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 DE.