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Web-Extra

Netzwerkästhetik und kritische Medienkunst

Das Centre Georges Pompidou widmet sich der Digitalisierung einer Kulturtechnik

16.6.2022

Netzwerke, so hat es Wendy Chun einmal prophetisch notiert, sind zu früh aus dem medientheoretischen Diskurs verabschiedet worden.1 Angesichts der zentralen technologischen Entwicklungen der letzten Jahre – neuronale Netze im Machine Learning, Kryptowährungen in verteilten Blockchains – dürfte Chun mit ihrer Prognose recht behalten. Denn Netzwerke wirken heute als vorab vermittelnde Instanzen, die Relationen in Knoten und Kanten operationalisieren und bewerten. Sie sind mehr denn je in verteilte digitale Infrastrukturen eingelassen. Zugleich werden sie zur Bedingung neuer Medienökologien, die sich nicht primär durch graphentheoretische Kalküle, sondern durch digitalisierte Natur-Kultur-Transformationen und maschinelles Lernen auszeichnen.

Die Pariser Ausstellung «Réseaux-Mondes» ist daher, als fünfter Teil der Reihe Mutations  Créations, sowohl Bestandsaufnahme wie netzwerkästhetische Intervention zum richtigen Zeitpunkt. Die titelgebenden Netzwerk-Welten sind von den Kurator_innen Marie-Ange Brayer und Olivier Zeitoun in vier dicht szenografierte Räume unterteilt worden. Wer die Ausstellung betritt, kann sich zunächst eine historische Verortung des Netzwerkdenkens und seiner Ästhetiken erschließen. Die umfassende, ebenfalls im Katalog dokumentierte Chronologie setzt im 17. Jahrhundert ein.2 Weitestgehend außer acht gelassen werden dabei aber nicht-westliche Entwicklungen. Dies wiegt umso schwerer, als räumlich-technische Strategien der netzwerkförmigen Unterwerfung nicht nur die französische Kolonialgeschichte kennzeichnen. Bereits der Eingangsraum stellt das Netzwerk jedoch als modernistisches, globales und tief durch westliche Vorstellungen des 20. Jahrhunderts geprägtes Phänomen vor. Das réseau global entsteht hier aus einer medientheoretischen Melange von Marshall McLuhan, Buckminster Fuller und den westlichen Kunst- und Architekturavantgarden nach dem 2. Weltkrieg. Exzellent ausgewählt sind vor allem die architektonischen Modelle, die sich in städtischen Räumen als neuer Zirkulationssphäre verorten – Constants Spatiovore, Yona Friedmanns Ville spatiale, ein Toulouser Bauplan des Kollektivs Team X, Archigrams von Maschen geprägte Computer City und Günther Domenigs und Eilfried Huths Stadt Ragnitz.

Während deren Formen allesamt noch modernistische Reduktion suggerieren, fassen die Modelle alle zukünftigen urban-vernetzenden Ströme als hoch fluide und zugleich kybernetisch vermittelt. Bemerkenswert sind auch die versammelten bildschirmbasierten Positionen, etwa Allan Kaprows televisuelles Happening Hello aus dem Jahr 1969. Dessen closed loop aus fünf Kameras und 27 Monitoren wird hier als soziales Medium und Videokonferenz avant la lettre ausgestellt. Medienarchäologisch spektakulär ist eine Minitel-Installation, mit der die Übertragung von Videotext-Poesie über das frühe französische Onlinenetz rekonstruiert wird. In der Rekonstruktion durch das Kollektiv PAMAL trägt sie den bezeichnenden Titel Profound Telematic Time. Sie präsentiert in vielfarbiger Schrift die für die historischen Minitel-Terminals entstandenen Texte: telematische Romane und eine experimentelle Onlinezeitschrift, die bereits 1985 in «Les Immateriaux» im Centre Georges Pompidou zu sehen war.

Besucher_innen müssen sich nach dem Erkunden des ersten Raums entscheiden: Folgen sie der künstlerischen Netzwerkkritik – einer critique des réseaux – oder wenden sie sich lebendigen Netzwerken zu? In meinem Parcours habe ich zuerst das réseau du vivant als zweiten begehbaren Raum gewählt. Das lebendige und verlebendigte Netzwerk ist der gar nicht so heimliche Star der Ausstellung – insbesondere dort, wo die neuesten Technologien des maschinellen Lernens und biologische Experimente auf bestehende soziotechnische Netzwerke angewandt werden.3  So präsentiert die Londoner Architekturagentur ecoLogicStudio eine bio-urbane Installation, in der ein Generative Adversarial Network (GAN) die städtische Struktur von Paris überwuchert. Grundlage des selbstlernenden Netzwerks ist dabei das Verhalten des Einzellers Physarum polycephalum. Eine andere Rekombination von lebenden Netzwerken und technischer Vermittlung inszeniert das niederländische Künsterduo DRIFT. In der Mitte des zweiten Raumes lassen sie eine hypnotische, Flylight genannte Installation schweben. Die LED-Leuchten eines Lichterschwarms interagieren darin als sensorische Medien mit den Bewegungen des Ausstellungspublikums. Der von den Designer_innen Lonneke Grodijln und Ralph Nata eingesetzte, an Vogelschwarmbewegungen angelehnte Algorithmus fungiert als erstes spielerisches Element. Die sich stetig verändernden Bewegungen der umgebenden Menschenkörper wirken als zweite, umweltliche Bedingung der visuellen Musterbildung.

Bild 1: Le réseau du vivant. Ausstellungsansicht von «Réseaux-Mondes», Centre Georges Pompidou, 23. Februar bis 25. Mai 2022. Alle Rechte hinsichtlich der Kunstwerke vorbehalten. Fotografie Sebastian Gießmann.

Der Ausstellung gelingt es immer wieder, die wechselseitige Konstitution von Umwelten und Netzwerken zu variieren und infrage zu stellen. Dabei zeigen die Kurator_innen Mut zum Obskuren. Sie erteilen rein strukturfunktionalen, operationalisierten Auffassungen von Netzwerken eine deutliche Absage. Selbst da, wo biosozial gerechnet wird, wird das Überraschende und Nichtberechenbare von heterogenen Netzwerkbildungen betont. Besonders deutlich wird dies in den Arbeiten von Trevor Paglen. In der 2017 entstandenen Serie The Shape of Clouds wendet Paglen maschinelle Gesichtserkennung auf Wolkenfotografien an – und dokumentiert deren scheiternde Bildanalyse, indem er ihre geometrischen Sprünge als überlagernde, zweite Bildschicht mit inkohärenten Zickzacklinien und Kreisüberlagerungen in das Bild integriert.

Der dritte Raum der Ausstellung hätte eigentlich ihr erster seien können, wenn nicht sogar müssen. Erst an diesem Punkt pointieren die «Réseaux-Mondes» textile, und nicht notwendigerweise durch westliche Kulturen geprägten Qualitäten von Netzen und Knoten. Zugleich spielt der Raum mit der retikularen Ästhetik des Centre Georges Pompidou selbst. Dessen industrielle Röhreninfrastruktur schwebt über den Objekten, die hier ein eigenes Ensemble bilden. Nœuds et réticulations versammelt älteste und neueste Medien und setzt dabei durchaus auf die widerständige Gegenständlichkeit von Netzstrukturen. Gemeinsam entstandene Arbeiten aus der Textilwerkstatt von Hella Jongerius stehen neben Sheila Hicks Prayer Rug aus den Jahren 1972 und 1973. Richard Vijgens beeindruckende WiFiTapestry 2.0 fängt die Signale der umliegenden drahtlosen Funknetzwerke ein und übersetzt sie in einen dynamischen, bildschirmbasierten Teppich. Mit seiner Anthologie des regards visualisiert Julien Prévieux verteilte Augenbewegungen von Ausstellungsbesucher_innen, die per Eye-Tracking-Software aufgenommen worden sind. Als Wunderkammer arrangiert, enthält der Raum auch eine Arbeit von Tomás Saraceno, in der von zwei Spinnenarten «semi-sozial» gemeinsam gewebte Gespinste auf Papier materialisiert werden. Deren kooperative Zeichnungen aus Spinnenseide hätten ebenso zum Netz des Lebendigen gepasst.

Bild 2: Nœuds et réticulations. Ausstellungsansicht von «Réseaux-Mondes», Centre Georges Pompidou, 23. Februar bis 25. Mai 2022. Alle Rechte hinsichtlich der Kunstwerke vorbehalten. Fotografie Sebastian Gießmann.

Im vierten Raum widmen sich die «Réseaux-Mondes» einer künstlerischen Kritik der Netzwerke. Neben der Tradition der Net.art stehen hier vor allem sozioökonomische Bedingungen und kontrollgesellschaftliche Eskalationen im Vordergrund. So kartiert das französische Künstlerduo rybn.org die globalen Finanzströme der Londoner City mit ihrer Arbeit Offshore Tour Operator. Ihre Resituierung von Finanzströmen durch Neu- und Wiederkartierungen folgt dabei einer langen Tradition. So ist Mark Lombardi selbstverständlich mit einer seiner Arbeiten zu den ökonomisch-verflochtenen «Global Networks» präsent. Die Pariser Künstlerin Louise Drulhe kartiert in großformatigen, geologisch anmutenden Handzeichnungen die historische Entstehung von The Two Webs – der parallelen Entfaltung eines freien, frühen Webs mit dem fast zeitgleich entstehenden, von Google dominierten Tracking Web. Mit ihren kritischen Kartografien zeigt die Ausstellung die unheimlichen und affektiven Qualitäten von fortwährender digital-vernetzter Kontrolle und Überwachung. So übersetzt Mika Tajima in einer eigens für die Ausstellung entstandenen Arbeit Human Synth die Gefühle von Pariser Twitternutzer_innen in Rauch- und Nebelschwaden. Als Psychogeografie nutzt Tajimas Animation die üblichen Plattformdaten, um sie komplett im Hin- und Herwogen vielfarbigen Rauchs aufgehen zu lassen. Eine deutlichere Absage an divinatorische Praktiken, die sich Big-Data-Analysen nennen, lässt sich kaum vorstellen. Kurator Olivier Zeitoun schreibt dazu in seinem Katalogbeitrag «Les oracles du réseau», der Innenraum des Netzwerks sei eine von Dunst durchzogene Landschaft geworden.4

Was fehlt dieser Ausstellung, die überreich an interessanten künstlerischen Positionen und klugen Katalogtexten ist? Zunächst einmal – nach einer bisher einmaligen Präsentation vom 23. Februar bis zum 25. April 2022 – die mehr als verdiente Bekanntheit über Frankreich hinaus. Auffällig bleibt, dass «Réseaux-Mondes» digitale Netzwerkästhetik und Medienökologie zwar auf ein neues Niveau hebt, darüber aber die soziologische Komplexität des Themas – und seine Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert – fast gänzlich ausblendet. Das gilt auch für manche zu knapp ausfallende Theoriereferenz. Michel Serres, Gilles Deleuze, Daniel Parrochia, Luc Boltanski, Ève Chiapello, Bruno Latour und die Akteur-Netzwerktheorie werden zwar im Katalog erwähnt. Aber ihre konstitutiven französischsprachigen Beiträge zur Theoretisierung des Netzwerks sind nur en passant repräsentiert. Weitaus eher gilt die theoretische Aufmerksamkeit der Kurator_innen Alexander Galloway, Benjamin Brattons The Stack, Shoshanna Zuboffs Age of Surveillance Capitalism, Karen Barads agentiellem Realismus und Geert Lovink als europäischer Stimme.5 Eine post- und dekoloniale Perspektive, die die tiefe Einbettung des «Netzwerks» in westliche Ontologien kritisiert, bleibt überraschenderweise ausgeblendet. Die Akteur-Netzwerktheorie hat dies zumindest versucht, indem sie transkulturell die lediglich graduellen Unterschiede zwischen westlichen und nicht-westlichen Netzwerkverkettungen und ihren Übersetzungsleistungen betont. Eine anthropologische These wie Bruno Latours «Wir sind nie modern gewesen» fehlt der Ausstellung deshalb umso mehr.

Netzwerke werden, wenn man so will, insbesondere in metonymischen Konstellationen produktiv: Ihre kulturtechnische Verfassung bewegt sich einerseits mit den jeweiligen infrastrukturellen Medientechnologien. Andererseits bleibt sie – trotz aller Mutationen – in ihrer Objektreferenz auf Knoten und retikulare Verkörperungen vergleichsweise stabil. So prägten raumgreifende, textile Netzwerke bereits die venezianische Biennale von 2009. Im Vergleich dazu wagt sich die Pariser Ausstellung weit in das Territorium digitaler Netzwerke hinein, das mittlerweile zum metonymischen Maß der vernetzten Dinge geworden ist. Ihr gelingt dabei etwas, das immer nur temporär möglich ist: Sie fängt das Netzwerk ein und entlässt es zugleich in neue Umwelten.

  • 1Wendy Hui Kyong Chun: Networks NOW: Belated Too Early, in: David M. Berry, Michael Dieter (Hg.): Postdigital Aesthetics: Art, Computation and Design, London 2015, 289–315, online unter https://doi.org/10.1057/9781137437204_22.
  • 2Marie-Ange Brayer, Olivier Zeitoun (Hg.): Réseaux-Mondes, Paris 2022 (Mutations Créations 5), 55–67.[7fn] Sie folgt den sich überlagernden Ent- und Rematerialisierungen des Netzes in Kunst, Technik und Wissenschaft, für die gerade französische Entwicklungen wie Diderots und D’Alemberts Encyclopédie und Saint-Simons Industrialismus maßgeblich waren.Pierre Mussos Katalogbeitrag stellt «La révolution du réseau au siècle des lumières» in den Vordergrund. Ebd., 102–113.
  • 3«Mais le premier des réseaux est le vivant» schreiben Laurent Le Bon, Xavier Rey und Frank Madlener in ihrem Vorwort. Ebd., 50.
  • 4«L’espace intérieur du réseau, devenu un paysage vaporeux […].» Ebd., 91.
  • 5Ohne Geert Lovink hätte es diese Ausstellungsbesprechung nicht gegeben. Vielen Dank für die europäische Vermittlung!

Bevorzugte Zitationsweise

Gießmann, Sebastian: Netzwerkästhetik und kritische Medienkunst. Das Centre Georges Pompidou widmet sich der Digitalisierung einer Kulturtechnik. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Web-Extra, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/netzwerkaesthetik-und-kritische-medienkunst.

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