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Neapolitanische Echos: Elvira Notari

5.4.2018

Aus Neapel heraus organisiert

Das Problem der Berichterstattung ist die Organisation des Materials. Wissenschaftliche Formate – etwa Tagungen, Vorträge, Berichte – folgen einer bestimmten Logik, müssen einen nachvollziehbaren und schlüssigen Aufbau aufweisen. Ihre Architektur soll stimmig sein. Aber das vorliegende Material, die Präsentationen, geben – in Retrospektive – keine Richtung vor: Die Verbindungen sind vielschichtig und dynamisch. Und damit entsprechen sie Neapels Konstitution und dem Einfluss, den diese mythologische Maschine, so Lucia die Girolamo, auf alle ihre Repräsentationen hat. Denn Neapel ist, so Rembert Hüser, eine offene Situation. Und man muss mit Neapel denken, um zu Elvira Notari zu kommen – oder umgekehrt, Elvira Notari ist nicht ohne Neapel zu haben.

Neapel war Arbeitsort und Sujet Elvira Notaris: Zwischen 1906 und 1930 produzierte sie unter ihrem Label Dora Film ca. 60 Langspielfilme, sowie über Hundert Dokumentar- und Kurzfilme. Sie verfasste die Drehbücher und führte Regie, ihr Mann Nicola stand hinter der Kamera, der gemeinsame Sohn Eduardo davor. Leider ist das Gros ihrer Filme verloren – nicht ungewöhnlich für das frühe Kino –, nur drei Langspielfilme sind (fast komplett) erhalten, die nun neu restauriert wurden: ’A Santanotte, E’piccerella und Fantasia ’e surdato. Es gibt außerdem noch einige Fragmente, die fast unmöglich zuzuordnen sind. Mittels des Zusammenbringens von italienischen Expert_innen und internationalen Wissenschaftler_innen sollte in Frankfurt die Bedeutung von Elvira Notaris Schaffen über die Grenzen von Italien hinaus verdeutlicht werden.

Der Titel des interdisziplinären Symposiums «Neapolitanische Echos» kann in diesem Sinne Anleitung sein. Elvira Notari und ihr Kino stehen in der Mitte, um sie herum gruppieren sich – vor- sowie nachgeordnet – das / die Echo, die mythische Gestalt der Parthenope, Neapel als Manifestation von Populärkultur. Im Verlauf des Symposiums wurde jedoch deutlich, dass Neapel viel mehr ist als bloßes Setting: Es ist ein komplexer Imaginationsraum und symbolisch aufgeladener, urbaner Ort, der selbst agiert, lebendig ist. Die Tagung präsentierte ein vielschichtiges, enges Geflecht aus verschiedenen Diskursen, die sich bei Notari trafen, sie streiften oder peripher umgaben. Um den Ergebnissen und der Komplexität der Thematik gerecht zu werden, ist es daher notwendig, sich anders als chronologisch durch die präsentierten Vorträge zu bewegen. Daher folge ich nicht der Struktur des Programms, sondern beginne im Kern, bei Neapel. Von der italienischen Hafenstadt ausgehend, begebe ich mich auf eine Reise durch die zweieinhalb Tage in Frankfurt, um kursorisch zu versuchen, die Inhalte in einer bewegten Struktur ohne Richtung – «no direction in Naples», so erneut Rembert Hüser – wiederzugeben. Dies wäre auch die Antwort auf die Frage Sonia Campaninis in ihrer Begrüßungsrede: Warum Notari in Frankfurt?

Insider / Outsider

In ihrem Eröffnungsvortrag «Elvira Notari within a Re-contextualization of ‹Neapolitan› Cinema» verdeutlichte Giuliana Muscio wie stark die Rezeption Neaples und vor allem die der Neapolitanita, des neapolitanischen Kinos, geprägt ist von einer imaginierten Grenze zwischen Nord- und Süditalien. Muscio fasste das neapolitanische Kino anhand einer ausgewählten Filmhistoriographie nicht entsprechend der verbreiteten Auffassung als provinziell und damit niedere Spielform des italienischen Kinos auf. Stattdessen charakterisierte sie es als eine Ausprägung des populären italienischen frühen Films. Neapolitanita finde man demnach nicht als eine lokalisierte, kulturelle Imagination südlich von Rom, sondern sei als hegemoniale Dispersion der komplexen neapolitanischen Kultur zu verstehen, die den gesamten Süden miteinschließe. Wichtig für die Rezeption Neaples ist demnach die Reflektion der bestimmten Situation, die der italienische Süden präsentiere und die Konstitution Neapels selbst. Besonders deutlich wurde das im Panel «Naples: A Cinematographic Topography», welches zwei Blicke gegenüberstellte, von innen und von außen.

Lucia Di Girolamo präsentierte in «Parthenope’s Memory: For a New Mythopoetics of Urban Space» Neapel als mythologische Maschine – und als Neapolitanerin den Blick von innen. In diesem hochkomplexen und philosophischen Vortrag verband Di Girolamo die besondere Konstitution Neapels – eine Stadt, gegründet auf einem Mythos, bestehend aus Rissen und Faltungen, wo sich alle Orte in Transit befinden, was wiederum alle artistischen Kräfte definiere – mit der Bedeutung des Kinos für den Nukleus, das mythologische Zentrum. «Cinema and the city perhaps are the same thing». Die gesamte Landschaft Neapels finde ihre Repräsentation im Kino. Dabei seien die Diskurse, die von den Lücken («gaps») ausgehen wichtiger, als die Lücken selbst. Notaris Filme seien die Arbeit am nächsten zum mythologischen Kern: sie würden keine klaren Oppositionen zwischen ‹Gut und Böse› enthalten. «Her cinema is hybrid».

Dem ‹Insider›-Blick gegenüber stellte Rembert Hüser die zufällige Begegnung zwischen Notari und der Frankfurter Schule in: «Chicken in Paper Bins. Frankfurt Goes Naples». Im Zentrum des Vortrags stand der Blick von außen auf Neapel und der Einfluss von Neapel auf die Frankfurter Schule. Hüsers Kernanliegen war die Frage, wie man eine Film- und Kulturhistoriographie von Neapel schreiben oder konstruieren könne. Hüser folgte in seinem Vortrag der Spur des Porösen (Benjamin) und dem «Ideal des Kaputten» (Sohn-Rethel). Notari, besser das, was von ihren Filmen übrig ist, entspreche damit der neapolitanischen Logik des Bauens mit Löchern, der Organisation von Material ohne inhärente Richtung. Hüser diente hier die Metapher der Büroklammer: sie bilde temporäre Archive, ermögliche es, verschiedene Materialien miteinander zu ‹verbinden›. Neapel präsentierte sich in diesem Beitrag als komplexe Denkfigur und -struktur, die bis heute Aktualität besitzt.

Martin Loiperdinger sprach sich anhand einer Analyse der Ikonographie von Neapel und seinen Einwohnern für eine an Zuschauerschaft orientierte Einordnung von Notaris Werk als «local film» aus. Er verglich Notaris Porträtierung von Neapel mit der von Neapel in Postkarten und Fotografien für Touristen. «The working poor represent some kind of cinematographic slumming». Er kontrastierte den Blick von außen auf Neapel mit dem von innen und argumentierte, dass die kinematographisch wahrnehmbaren Unterschiede von privat und öffentlich durch die Repräsentation im Kino generiert werden.

Notari, Frauen, Zeitgenossinnen

Notari kann man nicht in den Blick nehmen, ohne die Repräsentation von Frauen und Gender zu berücksichtigen. Rossella Cataneses Vortrag über «Chiarina la modista: the Southern Woman between Fashion and Film» verband Notaris frühe Filmproduktion mit der Textilindustrie im italienischen Süden. Catanese verdeutlichte, dass die Frauen des Großraums Neapel in Notaris Filmen eine Repräsentation ihrer tatsächlichen Lebensumstände fanden. Denn anders als patriarchal geprägte Darstellungen wurden hier Frauen nicht in ihren Rollen als Mutter oder Hausfrau / -hälterin charakterisiert. Durch die Figur der Modistin schaffe es Notari, ein vielschichtiges Bild neapolitanischer Frauen zu zeichnen, die maßgeblich zum Familieneinkommen beitrugen und somit auf mehreren Ebenen – Film, Mode, Industrialisierung – das Thema der Moderne und Modernisierung veranschaulichen. Ähnlich argumentierte Angela Maria Fornaro in «Woman and the City in Elvira Notari’s Cinema». Durch eine semantische Analyse der Architektur in ’A Santanotte und E’ piccerella stellte sie die Verbindung und Vermischung von Privatem und Öffentlichkeit heraus. Besonders einprägsam war ihre psychoanalytische Lesart der Architektur, in der sie sich insbesondere auf die Bedeutung der Fenster fokussierte. Sie seien im doppelten Sinne Passage und Rahmen, das Gewähren oder Negieren der Passage durch das Fenster sei als Eintritt oder Verweigerung zum weiblichen Körper zu lesen. «And in Notari‘s films the threshold between private and public is exactly the city space where the female figure defines herself». Wieder Benjamin folgend, eröffne die Porosität Neapels in Notaris Filmen Möglichkeiten für veränderte «power-dynamics» zwischen Männern und Frauen. Notaris kinematographische Repräsentation zeige eine vielschichtigere Landschaft von Rollenbildern als andere Produktionen derselben Zeit.

Giovanna Callegari setzte sich in «Upset Bodies: Elvira Notari and Gender Representation in Women’s Cinema» mit philosophischen Fragen auseinander und nahm den filmisch konstruierten Körper in den Blick. Die besondere Körperlichkeit des Kinos von Elvira Notari erwecke Resonanzen, körperliche Echos, vor allem in den Zuschauerinnen. «The passage to cinema of body is crucial for Notaris work, transformation of bodily experience is central». Auch Heide Schlüpmann widmete sich in ihrem Beitrag der Körperlichkeit und verglich die «bodily presence» von Asta Nielsen mit der konstruierten Körperlichkeit in Notaris Kino. Die besondere Expressivität Notaris liege in der Musik, die einen Körper zwischen und mit dem filmischen Raum und dem Realraum kreiere.

Anna Masecchia beschäftigte sich ebenfalls mit Fragen der Performance und widmete sich in «Leda Gys in Naples, between Tradition and Modernity» – ähnlich wie Schlüpmann – einer anderen Zeitgenossin Notaris. Masecchia charakterisiert Gys anhand eines Vergleichs mit zeitgenössischen Diven – Francesca Bertini, Pina Menichelli, Lyda Borelli – ihren jeweiligen Posen und ihrer Mimik. Dabei stellt Masecchia heraus, dass es sich bei Gys um einen Grenzfall, eine Figur zwischen Komödie und Diva handle, die damit symptomatisch für einen sich in weiblichen Charakteren vollziehenden Wandel in den 20er und 30er Jahren sei. Gys’ Position sei demnach im doppelten Sinne «between tradition and modernity»: die Diva selbst verkörpere anti-moderne und moderne Tendenzen.

Die Italienisch / Amerikanische Passage: Sceneggiata, Musik und Migration

Im Gegensatz zu anderen frühen Filmzentren Rom und Turin ist Neapel, um noch einmal auf Giuliana Muscios Eröffnungsvortrag zurückzukommen, eine besondere Verbindung zu den Amerikas eigen, wie auch Elvira Notaris Werk beweise. Eine besondere Form, die sich in der Neapolitanita herausgebildet habe, ist die «italian american sceneggiata», die in mehreren Beiträgen zentraler Gegenstand der Auseinandersetzung mit Notari war.

Sonia Campanini unterstrich Notaris besondere Rolle für die Produktion und die Verbreitung von Sceneggiata Filmen. Das sind Produktionen, die auf bekannten populären Liedern basieren, produziert von der Musikindustrie und oftmals ebenfalls Titelgeber für die Filme. Zentral für «Scene sulle canzoni: Neapolitan Songs in Elvira Notari’s Sceneggiata Films» seien die Intermedialität, der performative Charakter der Filme sowie die Verwendung des Vernakulären im frühen Kino. «Neapolitan songs activate emotions». Diese Filme stellen eine Besonderheit dar: sie existieren nur in der Performanz, im geteilten Raum des Theatralen, des Kinematographischen und der Neapolitanita. ’A Santanotte sei etwa zum Rhythmus der Musik editiert worden – nur erfahrbar in der Vorführung. Auch Kim Tomadjoglou widmete sich den Sceneggiata Notaris. In «The Sounds of Images and Songs: Rethinking Elvira Notari’s Cinema of the 1920s» stellte Tomadjoglou deren Bedeutung für das amerikanische Publikum heraus. Sie zog Zensurreporte, Dokumentationen des Copyrights, Anzeigen als Quellen hinzu, um herauszuarbeiten, welche mögliche ‹Form› die Filme hatten, die von den italienischen Immigranten rezipiert wurden. «[F]ilms got the protection by the music, which was protected by law, sometimes». Trotzdem wurden die Filme stark zensiert, mit Warnungen für Mütter für ihre Töchter versehen und sogar Namen der Charaktere geändert. Dies hatte einen Identitätswechsel zur Folge, eine Amerikanisierung italienischer «Typen».

Ebenfalls auf die Spuren der Musik begab sich Simona Frasca in «Elvira and Friends: Music and Migration from a Female Perspective». Sie zeichnete ein musikalisches Panorama des Jazz-Age und verdeutlichte die unterschiedliche Verwendung von Musik in Amerika. Der Kontakt zwischen neapolitanischer und US-Kultur hatte zur Folge, dass, anders als in Italien, die von Immigranten in Amerika konsumierte Musik «as security and identity» funktionierte. Die dort angesprochenen Themen der Sexualität und die vermittelten Rollenbilder entsprachen eher der traditionellen, italienischen Kultur, besonders die Rolle und das Selbstverständnis der Frau(en).

Die Themen der Migration und des Selbstverständnisses aufgreifend, widmete sich Karianne Fiorini in ihrem Vortrag «Home Movies from the Italian-American Community: the Lombardi Family, a Case Study». Dieses Filmmaterial war ein Zufallsfund und ist nun der Öffentlichkeit mittels einer Webplattform zugänglich. Es präsentiere eine wichtige, alternative Quelle für die Filmhistoriographie. Die Familie Lombardi, selbst Emigranten, dokumentierte ihr Leben in den USA sowie auch die Reisen nach Italien. Auch in diesen Filmen wird die Passage auf mehreren Ebenen verhandelt, die Frage nach kultureller und sozialer Identität, der besondere Blick der Emigranten auf neue und alte Heimat.

Populärkultur und (mediale) Peripherie

Notari benutzte nicht nur Songs als Anstoß und Grundlage für ihre Filmproduktionen, sondern rekurrierte sehr oft auf populäre Literatur sowie im Feuilleton veröffentlichte Berichte und Kurzgeschichten. Katharine Mitchell stellte eine Zeitgenossin Notaris und ihre Arbeit vor: «Matilde Serao’s Naples on Page and Screen». Serao war eine prominente Figur zu ihrer Zeit und produktive Autorin. Zentrales Anliegen Seraos sei es gewesen, ihre Leserinnen zu mündigen und kritischen Theaterzuschauerinnen förmlich zu erziehen: «[She] initiated females into cultural fields as agents in regard to cultural performances».

In anderen Vorträgen des Symposiums meist nur kurz erwähnt, waren die Dokumentarfilme Notaris, die sie im Auftrag italienischer Emigranten drehte und in die USA schickte, Gegenstand von Elisa Uffreduzzis Vortrag. Angefragt wurden auch Dokumentationen von regionalen Tänzen, so Uffreduzzi in «Tarantella in Silent Cinema. Women, Regional Variants and Dance Styles». Sie gab einen Überblick über die Tarantella und ihre Variationen und wie diese jeweils in verschiedenen Settings und für verschiedene Narrationen genutzt wurden. Dabei legte Uffreduzzi besonderes Augenmerk auf die Einflüsse anderer zeitgenössischen Tänze, wie etwa Ballett.

Das Symposium wandte seinen Blick aber nicht nur der italienischen Passage nach Amerika zu, sondern blickte auch in die engere Nachbarschaft, da Neapel nicht nur das Tor zur Neuen Welt war, sondern auch die Grenze zu Afrika markierte. Gina Annunziata stellte «Women Pioneers of Silent Cinema in North Africa» vor. Sie verdeutlichte, dass Frauen in Ägypten sowie in Tunesien zentrale Figuren der Filmproduktion waren. Jedoch äußere sich deren Feminismus anders als etwa der Notaris. In diesen extrem patriarchalen Ländern sprachen sich die Frauen konkreter gegen die sie umgebenden Strukturen aus und verwendeten etwa Rollenspiele und -tausch als stilistische Argumentationsmittel.

Andrea Mariani nahm die Anwesenden mit auf eine Autoreise durch Afrika: In «A Passage to Media. The Ghostly Shadow of Cinema and the Media Cosmos of an Explorer» war die Abwesenheit des versprochenen und beworbenen Films Auslöser für eine Erkundung des kinematographischen Schattens und Potentials des Automobils. Kino existiere hier als «framework», welches sich in der Organisationslogik des Fotoalbums, der Dokumentation der Reise niederschlage.

Das Frankfurter Echo

Das gesetzte Ziel, die Aktualität Elvira Notaris Werk zu verdeutlichen, hat das Symposium mehr als erfüllt. Trotzdem spürte man die ‹Löcher im Stein›, die fehlenden Filme. Dies hatte natürlich zur Folge, dass vor allem die wenigen erhaltenen Filme Gegenstand der Vorträge waren, dass es Überschneidungen und starke Nähe gab. In Konsequenz prägen diese Filme unser heutiges Bild von Notari. Wäre es da nicht wunderbar, noch Filmrollen in Südamerika zu finden?1 Denn wie die Tagungsorganisatorin Sonia Campanini betonte: «Parthenope is not dead».

  • 1 «Notari’s films circulated most widely among the Italian American community in New York, and reached other North American cities such as Pittsburg and Baltimore, as well as South American countries such as Brazil and Argentina». Giuliana Bruno: City Views: The Voyage of Film Images, in: David B. Clarke (Hg.): The Cinematic City, London, New York 1997, 51.

Bevorzugte Zitationsweise

Scharmann, Bianka-Isabell: Neapolitanische Echos: Elvira Notari. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Onlinetext, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/neapolitanische-echos-elvira-notari.

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