Michaela Ott, Affizierung. Zu einer ästhetisch-epistemischen Figur, München (edition text + kritik) 2010
Kein Thema scheint die Grenze zwischen Geistes- und Naturwissenschaften heute besser zu markieren, um gleichzeitig die mögliche Überwindung derselben anzudeuten, wie dasjenige der Affekte. Die Affekte haben auch in der abendländischen Denktradition immer wieder eine Schwellenfunktion übernommen, um in der Ethik von Spinoza sogar die Basis für eine Ontologie zu bilden. Heute dienen die Affekte insbesondere den Neurowissenschaften als Beleg eines biologisch funktionierenden Gehirns. Affekte garantieren, wie der US-amerikanische Neurologe Antonio Damasio betont, dem Organismus sein Überleben, indem sie ihn mit seiner Umwelt in Übereinstimmung halten. Verliert er an Wärme, signalisiert dies Frieren, verliert er an Energie, bedeutet dies Hunger. Auch die Medienwissenschaft hat sich der Attraktivität der Affekte nicht verschlossen und ist heute (wieder) sehr daran interessiert, diese als Grundlage für das Verhältnis von Menschen und Medien zu betrachten bzw. geht sogar noch einen Schritt weiter: so unternimmt Mark B. Hansen in seinen Arbeiten z.B. den Versuch, Medientechnologien in ihrer aktuellsten Form als bio-affektive Dimension zu begreifen.
All diese Interessen kennend und aufgreifend verweigert sich die vorliegende Untersuchung von Michaela Ott einer einfachen Perspektive in diesem Kontext, sondern befragt statt dessen »ästhetische und philosophiegeschichtliche Zeugnisse nach ihrer Kodierung von Affizierungsprozessen, von deren Genese und deren Weitertransport. In philosophische Terminologie übersetzt fragt sie nach der historischen Benennung erster Prinzipien und deren Veranlassung physischer und psychischer Bewegung, von als selbstkonstituierend gedachten Vorgängen und deren Weiterleitung und Übermittlung durch mediale Figuren, die zu diesem Zweck selbst häufig als Mischnaturen konzipiert werden. Vermittlung und mitgeteilte Teilhabe scheint sich besser plausibilisieren zu lassen, wenn der Mittler als verschiedenen Sphären zugehörig, als dividuiert und dividuierend bzw. Dividuiertes vermittelnd ausgemacht wird.« (S. 45)
Dabei geht es der Autorin nicht um Definitionen und historische Verläufe von Affizierung, sondern um die Figur der Affizierung in ihren diachronen und synchronen Artikulationen. Jedes der elf Kapitel des Bandes folgt einem strengen Aufbau: Ein Begriff oder ein Thema werden mit jeweils einem Film kombiniert, der den roten Faden für das Kapitel übernimmt.
Anhand des Begriffs oder Themas, im 3. Kapitel z.B. »Naturphilosophische Verschiebungen zwischen Körper, Seele und Geist« (S. 105-142), wird ein Netz von Zugängen aufgespannt, das die »aristotelische Vervielfältigung des Affekts« genauso umfasst wie das »Mitleid als positiven Affekt« oder die »Unterscheidung von tätigem Denken und passiver Seele bei Hannah Arendt«. Außerdem wird dieses Netz durch Ausführungen zur wissensdiskursiven Neuaufteilung, wie sie das 17. Jahrhundert vorgenommen hat, und an deren Ende eine physiologisch begründete Ethik möglich wird, vervollständigt. Als filmischer Leitfaden dient hierzu »Peeping Tom« (1959) von Michel Powell, an dem und mit dem die Übersetzung von Seele in Körper, Leiden in Genießen und umgekehrt durchgespielt wird.
Auf dieselbe dichte Verstrickung werden Themen wie Massenaffekte, Sozialaffektionen und Affektsklaven, Substanzielle Affektionen u.a. behandelt. Die Filmliste umfasst Filme wie Los Olvidados von Luis Bunuel (1950), Grbavica. Esmas Geheimnis von Jasmila Zbanovic (2006), Panzerkreuzer Potemkin von Sergej Eisenstein (1925) oder L’année dernière à Marienbad von Alain Resnais (1961).
Zwischen all diesen Elementen stellen Affekt- und Passionstheorien, Natur- und Erkenntnisphilosophien, neurologische und politische Ansätze Verbindungen her. Ein hin und her zwischen diesen und ein auf und ab in der Zeit produziert a thick description entlang der Figuren der Affizierung, die weniger beschrieben als evoziert werden. Es handelt sich also um keine Begriffsbestimmung, keine Her- oder Ableitung oder Nachweis der Übernahme oder Adaption; vielmehr sitzt – wie der Gang durch die abendländische Geistesgeschichte zeigt – die Figur des Affizierens (als Kräfteverhältnis) den Affekten, Affektionen, Passionen, Gefühlen und Emotionen auf; sie treibt Aristoteles genauso an wie Kant oder Deleuze, Spinoza sowieso und Antonio Damasio gleichermaßen, der in Spinoza den Ahnherrn der Neurologie zu sehen glaubt. Auch Schopenhauer, Freud, Lacan und viele andere mehr haben sich mit den Affekten, den Leiden und Freuden der Seele beschäftigt, um Unterschiedliches zu ihrem Wesen, ihrer Wirkmächtigkeit oder Funktion beigetragen zu haben. Man erfährt in Michaela Otts Band eine Zusammenschau im wahrsten Sinne des Wortes, da diese theoretischen Sichten sich stets mit den Blicken und den Bildern der Filme verbinden.
Diese Vorgehensweise muss man mögen, man muss sich darauf einlassen, das Denken in Konzepten und Bildern zu verbinden oder abwechselnd aufnehmen zu können. Wenn man sich darauf einlässt, bekommt man viel Material, das miteinander in Beziehung steht oder auch über die Affizierung weit hinausweist. Man erhält z. B. eine klare Vorstellung davon, wie Deleuze den Affekt im Kino ›gefunden‹ hat und warum das Kino immer eine große Emotionsmaschine war. Eine große, weiße Fläche, die den Menschen vor sich aufnimmt, verschluckt, um ihn affiziert – dividuiert würde Ott schreiben – wieder auszuspucken.
Dass diese große Leinwand sich heute in tausende kleine Screens verwandelt hat bzw. von diesen überholt wird, was deren Ubiquität und Geschwindigkeit betrifft, thematisiert Ott im letzten Kapitel mit dem Titel: Medienbedingte Affizierung. In diesem geht es um den Film Ben X von Nic Balthazar (Belgien/Niederlande 2007), um die Selbstaffizierung des Körpers im Bild, wie Bergson sie beschrieben hat, um eine dia- und synchrone Selbstaffizierung der Bilder nach Aby Warburg, um medienabhängige Wahrnehmungsweisen im Sinne Benjamins, um taktile Rezeption und kinematografische Regulierung, um das Affekt- und Zeitbild bei Deleuze sowie die Zeitmaterie von Lazzarato – und um die anleitende Frage, was aus der Kinoaffizierung im Zeitalter von Handys und Facebook wird bzw. wie diese neuen Medientechnologien auf die alten rückeinwirken werden.
Im Mittelpunkt des Films Ben X steht ein computerspielsüchtiger Jugendlicher, der, offline völlig kommunikationslos, online seine Phantasien auslebt. Die Inszenierung spielt denn auch zwischen on- und offline, stellt die Grenzverwischung bzw. Suture von Realität und Medienrealität in den Vordergrund. Die Figuren online treten aus dem Bereich des Virtuellen, aber so, dass nicht klar werden kann, ob sie nicht dennoch virtuell bleiben im Sinne ihrer Nicht-Aktualisierung (Deleuze). Der Film ist die Intro zur Frage nach den Bildern und Medienbildern der Welt, ihrer Wahrnehmung und der an diese gekoppelten Subjektivierung oder Selbstaffizierung. Denn letztlich läuft die Figur der Affizierung darauf hinaus, wie etwas wahrgenommen wird und wie dadurch etwas entstehen, sich form(ier)en kann. Die in diesen Prozess der Affizierung eingebundene Zeit bildet hierbei ein Intervall – das von Bergson über Deleuze bis zur heutigen Gehirnforschung eine zentrale Rolle spielt –, und worin sich die Verzögerung als Moment der sich selbstaffizierenden Zeit (als Zeit des Subjekts) zeigt. Auf diese Bewegung der Selbstaffizierung verweist Michaela Ott auch z. B. in der Herangehensweise von Aby Warburg, die Didi-Huberman – in Weiterschreibung der Deleuze’schen Filmbildtypologie – eine Wende in seiner Kunst- und Kulturgeschichtsschreibung eingestehen lässt: Dank der Warburg’schen Bildarchivierung sei ihm »der affektive und unheimliche Charakter der Bildtradierung« aufgefallen, sei ihm klar geworden, dass »die kulturelle Überlieferung als nicht-intentionale und – wie das individuelle psychische Geschehen – als durch uneinholbare Primäraffizierungen in Gang gesetzte, selbstläufige und nur retrospektiv zu analysierende Symptomatologie zu verstehen sei.« (S. 465) Bilder scheren aus ihrem linearisierten Zeitverlauf aus, entfalten eine contretemps, eine Gegenzeit, die Deleuze als das Affekt-Bild bezeichnen wird – in ihm wird das ›schon gewesen‹ – und das ›noch nicht‹ wahrnehmbar. Im Affekt-Bild »geht es dem Bild um sein Bild« (S. 472). Dieses Affekt-Bild eröffnet einen »beliebigen«, einen »taktilen Raum«, der seine »Containerform« abstreift und zu einem Raum »virtueller Verbindung« wird, der ein »Ort bloßer Möglichkeiten« ist (S. 473) Im Zeit-Bild erreicht die Kunst nach Deleuze ihren ästhetischen und epistemischen Höhepunkt, diesem gelingt es nämlich, »die philosophische Annahme, dass Primäraffizierung mit der Selbstkonstitution und -wiederholung der Zeit beginnt, in bildliche Anschauung zu übersetzen.« (S. 474) Vom Kino-Bild und seiner Fähigkeit, uns die Zeit sehen zu lassen, zum Video-Bild, wo sich die Zeit nach Lazzarato materialisert hat. »Die Videotechnologie ist eine maschinelle Anordnung, die eine Beziehung zwischen asignifikanten Strömen (Wellen) und signifikanten Strömen (Bildern) etabliert.« (S. 476) Trotz seines Fokus auf das Sichtbare bildet die Zeit jedoch auch bei Video das Essentielle. »Das Videobild ist die Schwingung der Materie selbst« (S. 478) in Echt-Zeit.
Michaela Ott schlägt sich nun jedoch ganz auf die Seite derer, die Video und TV immer schon die Indistinktion von Bewegung und Bild und damit das Kappen des Intervalls und hiermit die Löschung des Affekts vorgeworfen haben. Diese Indistinktion werde, so Michaela Ott, im Computerspiel fortgesetzt. »Computertechnologie schließt in der Tat auf bislang nicht dagewesene Weise Wahrnehmung und Handgriffe des Benutzers kurz und [verbindet sich in] der Gewöhnung an schnelle Datenaufnahme und -verarbeitung mit filmkonsumptorisch eingeübten zerstreuten Rezeptionsvorgängen. Insofern die Technologie als Zwischenglied zwischen Wahrnehmung und Handlung fungiert, besetzt sie nun jene Stelle, die im anthropologischen Schema von der Affektbildung eingenommen wird.« (S. 479)
Dies also der Kurzschluss: Aus Sein und Zeit von Heidegger wurde bei Bernard Stiegler Technik und Zeit1, aus dieser wird nun bei Michaela Ott die Technik und der Affekt bzw. die Zeit der Technik als diejenige des Affekts. Ist bei Stiegler jedoch die Zeit immer schon Technik und diese immer schon in der Zeit, ist der Affekt bei Ott aus seiner anthropomorphen Rahmung herausgetreten, um in die Zeit des Kinos einzutreten. Denn nur im Kino kann der Affekt seine Zeitdimension ausagieren, in den Computertechnologien wird diese, wie ausgeführt, geschluckt und auf eine andere Ebene der Wirksamkeit gedrängt, wie die Autorin darlegt. Dennoch meint sie abschließend, dass das Potential, das Deleuze und Guattari der Affizierung zugesprochen hätten, nicht verloren ginge, sondern sich quer zu allen technisch-politischen Territorien re-organisiere: »Nicht nur affizieren die Medien und werden Subjektivierungen von den Medien auf vielfache Weise mitgestaltet. Auch die medienbedingten Formen globaler und lokaler Interaktion, affektgeleiteter Vermeutung oder gefühlsbasierter E-Communitybildung zeugen von neuen Arten der Affizierung. Diese weisen einen zunehmend komplexen Charakter auf, insofern sie aus dem Zusammenspiel kultur- und individualspezifischer Affizierungspotenzen der Akteure, aus deren vorauslaufender Erwartung und antizipatorischem Engagement entstehen, sich aus Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozessen, zu denen die Selbstaffizierung der elektronischen Gemeinschaft gehört, und aus imaginären und realen Verbindungs- und Austauschmöglichkeiten, aus elektronischen Handlungsalternativen und deren realen Umsetzbarkeit speisen und sich je nach zeitlicher Dauer und mitgeteilter oder erlebter Affektartikulation rückkoppeln, potenzieren oder minimieren.« (S. 487)
Ich kann mir gut vorstellen, dass sich manche der Leser/innen Konkreteres erhoffen oder erwarten, dass sie sich wünschten, im Gewirr unzähliger Affekttheorien eine Orientierung angeboten zu bekommen. Diese Erwartung, wenn sie denn eine sein sollte, unterläuft Michaela Ott. Auf ihre Weise natürlich sehr konsequent, denn Deleuzes und Guattaris Philosophie kann nicht als Folie über soziale Zustände, politische Lagen oder filmische Inszenierungen gelegt werden, sondern muss immer als konsequentes »insofern« verstanden werden, also als eine Denkhaltung gehandhabt werden, die den Trumpf ihrer letzten Transzendenz nie ganz ausspielt.
März 2012
- 1Vgl. Marie-Luise Angerer, Am Anfang war die Zeit. Zu Bernard Stieglers zeit-technischer Verspätung des Menschen, ZfM, Heft 5, 2011, 177-180.
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