Lenz, Sergej Eisenstein: Montagezeit
Die Monographie über Sergej Eisensteins Gesamtwerk verspricht „eine Einführung für alle“ und zugleich „ein Werk, das durch unerwartete Funde neue Betrachtungsperspektiven aufzeigt.“ (S. 14) Anders als in traditioneller Forschung liege ihr Schwerpunkt darin, Eisensteins Montage „primär als Zeitorganisation“ zu bestimmen (S. 15). Sie möchte dabei das Gemeinsame aller seiner Filme herausarbeiten, indem sie das Werkübergreifende statt in inhaltlichen Elementen in „Rhythmus, Formmetamorphose, Synchronismus und pathetische[r] Steigerung“ (S. 17) ausmacht. Damit ist zugleich eine neue interpretatorische Akzentuierung intendiert: „[M]ein Zugang über motorische und zeitliche Prinzipien widerlegt in fundamentaler Weise die These einer Spaltung in Eisensteins Werk.“ (S. 18) Der Begriff der organischen Einheit, dessen Dominantwerden in der Eisenstein-Forschung zumeist als Zäsur zu seinen Filmen der stalinistischen Periode definiert wird (vgl. z. B. David Bordwell, The Cinema of Eisenstein Cambridge/London 1993, S. 177–179), sei kein neues Denkmodell der Spätphase. Vielmehr gilt sie der Studie als eine invariante „Basis“ (S.19), auf der sich eine übergreifende, unverrückbare ‚Einheit des Autors’ gründen soll, auf deren Suche sie sich damit begibt. Sie scheint indes nicht nur methodologisch problematisch, setzt sie doch bereits zu Anfang eine in der Tiefe liegende Identität in einem vielschichtigen (und gewaltigen) Werk wie Eisensteins voraus, sondern wäre bereits aus empirisch-biografischen Gründen bei ihm – aufgrund der fundamentalen Veränderungen des gesellschaftspolitischen Umfelds im frühen Sowjetrussland, der zahlreichen Dienstverbote bis hin zu brutalen Eingriffe in seine Filme, aber auch seiner legitimierenden Mitarbeit im stalinistischen Staat – in Frage zu stellen.
Entsprechend dieser Intention entwickelt der Autor im einleitenden Kapitel „Vom Körper zur Komposition“ eine Theorie reiner Bewegungsmotorik bei Eisenstein, wobei er diese gänzlich vom intelligiblen Aspekt der Kunst abstrahiert. Ihr Grundbegriff sei die der Geste; ihn übernehme der frühe Eisenstein vom Theaterexperimentator Meyerhold und verwandele ihn in ein „ganz und gar filmisches Material“ (S. 26): „Die Geste ist demnach mehrfach bestimmt: Sie ist Teilelement einer organischen Bewegung, Bild des Ausdruckswillens des jeweiligen Darstellers und graphisches Element des Bildaufbaus“ (S. 27f.) – mit anderen Worten: Ausdrucksmittel und Ausgedrücktes zugleich. „Überspitzt formuliert ist Eisensteins Entwicklung nichts anderes als die fortwährende Neuentdeckung und Anwendung biomechanischer Prinzipien in je neuen Bildbereichen“ (S. 29); „[d]ie Biomechanik ist insofern eine Methode, die Körperverformungen des modernen Lebens zu kompensieren.“ (ebd.) Bereits an dieser Stelle, für die Studie insgesamt exemplarisch, folgt der Autor Eisenstein ohne Distanzierung in seiner (letztendlich metaphysischen) Annahme einer transhistorisch-ursprünglichen „Körperorganik“ (S. 35). Die rigorose formale Umsetzung dieser Organik in der kompositorischen Organisation eines (Film-)Kunstwerkes, wie man sie bei Eisenstein beobachten kann, verwandele „die messbare Zeit“ in eine „organische Zeit des Bewegungsflusses mit eigenen rhythmischen Gesetzen“. Ergebnis sei „eine nicht mehr zählbare, insofern unendliche Zeit der Bewegung.“ (S. 35) Inwiefern jedoch überhaupt so etwas wie eine unzählbare Zeit möglich ist, ob die Zeit selbst nichts weiter ist, als die Form der Zählbarkeit, d.h. die menschliche Ordnungsregel des sinnlich wahrnehmbaren Nacheinanders (vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B46-48), wird nicht problematisiert. Vielmehr werden die künstlerischen und essayistischen Reflexionen Eisensteins hierzu, die tatsächlich beharrlich wie unsystematisch in verschiedenen Texten und Fragmenten aus seinem umfangreichen schriftstellerischen Oeuvre verstreut begegnen, als fundierende Aussagen übernommen. Hierin macht sich eine erste Schwierigkeit der Studie erkennbar, keine grundlegende zeittheoretische Reflexion – trotz ihrer Schwerpunktsetzung auf die „Montagezeit“ – zu vollziehen und demzufolge auch nicht zwischen Zeit als (Anschauungs-)Form und ihrem Inhalt zu unterschieden (vgl. Kant, a.a.O.). Sie isoliert infolgedessen durchweg die Zeitorganisation als einen abstrakten Gegensatz zur „Sinnproduktion“ (ebd.), statt jene als die unhintergehbare formale Seite von dieser zu behandeln.
„Eisenstein betrachtet Ausdruck als Synthese eines Bewegungskonflikts, in dem Gesamtkörper und Extremitäten verschiedenen Impulsen folgen und dadurch als gemeinsames Drittes Expression erzeugen.“ (S.37; herv. v. Rez.) Die intellektuelle Montage, wie in Oktober (1927/28) praktiziert, wird entsprechend reduktiv dargestellt, um sie als eine natürliche Weiterführung der früheren biomechanischen Attraktionsmontage beschreiben zu können. Dass es dabei noch um bestimmte Ideen geht, die nach Eisenstein durch die intellektuelle Montage zu vermitteln sind, spielt beim Autor keine wesentliche Rolle. Ebenso lässt sich ein kritisches Hinterfragen dessen vermissen, ob diese filmische Vermittlung, wie von Eisenstein beabsichtigt, überhaupt bruchlos funktionieren kann. Der vitale semantische Aspekt löst sich stattdessen restlos in der formalen Gestaltgebung auf, damit diese ihrerseits als bloße Expression der Motorik aufgefasst werden kann: „Auch der semantische Eindruck ist ein Montageresultat, das sich motorisch entwickelt hat und genauso wieder auflösen wird […]. Die Ausdrucksentfaltung durch Bewegung ist für Eisenstein immer ein Montageprozeß, und umgekehrt sind die bildsemantischen Konfrontationen seiner Filmmontage nie ohne ihre motorische Substruktur denkbar.“ (S.37) Ausgespart wird, dass die Bewegungen stets für etwas existieren, nämlich für ein Bewusstsein oder ein Unbewusstes – eine rezeptionstheoretische Problemstellung, die auch Eisenstein in seinen späten Schriften explizit reflektiert, wenn auch ohne eine konsistente Lösung zu finden (vgl. den in der Studie vielfach herangezogenen Aufsatz Ob otkaznom dviženii/Über die Gegenbewegung. In: Sergej Ėjzenštejn, Izbrannye proizvedenija, Moskau 1966, Bd. 4, S. 81–90). Dabei bemerkt der Autor sogar selbst: „Diese Auffassung [Bordwells These, Eisenstein erlaube sich Sprünge in filmischen Konstruktionen, Rez.] verfehlt, worum es eigentlich geht: Für Eisenstein findet die Kontinuität nicht im Darstellungsobjekt statt, sondern im permanenten Fluß der Zuschauerreaktion, der sich aus dem körperlichen Nachvollzug speist. […] Gerade in der Diskontinuität der Oberfläche gelingt die expressive Kontinuität im körperlichen Fluß der Sequenz und ihrer Wahrnehmung.“ (S. 37–38) Kann jedoch die Kontinuität oder die Einheit der Wahrnehmung den Dingen bzw. Bewegungen selbst zugesprochen werden, ohne ein Bewusstsein anzunehmen, das sie als solche wahrnimmt? Ohne eine Synthesisleistung des erkennenden Bewusstsein müsste eine automatische, unergründbare, letztendlich mystische Korrespondenz zwischen materiellen Prozessen und ihrem ‚körperlichen Nachvollzug’ angenommen werden, was Eisenstein – dies zeigt sich in der Studie auch ¬– zweifelsohne in seinen inkonsistenten Entwürfen zum Wechselverhältnis von künstlerischer Produktion und Rezeption so tat.
Die reine Gegenbewegung wird, ohne kritische Differenzierung verschiedener Stufen und Einflüsse in der Theorieentwicklung bei Eisenstein, zum Grundprinzip seiner Ästhetik und Poetik schlechthin verabsolutiert: „Die Filmmontage Eisensteins ist eng mit der Gestaltung von Gegenbewegungsverhältnissen verknüpft.“ (S. 40) Der Autor spricht von einem „consistently recoiling“, permanentem Rückschlagen, als formalem Prinzip; darin „schlage das Herz von Eisensteins Zeitdramaturgie“ (Zit. auf Englisch, S. 41). In dieser Form findet sich allerdings dieser Ausdruck im russischen Original des Beitrags über den otkaz (eigtl. Weigerung, hier im weitesten Sinn: Verneinung, vgl. Ejzenštejn, ebd.) nicht. Eisenstein geht es dort eher darum, den otkaz als ein geeignetes filmisch-künstlerisches Verfahren zu beschreiben, freilich durchaus mit einem normativen Anspruch auf Universalität.
Die unkritische Haltung des Autors, der zugleich selbst „ein Aufbrechen ideologischer Betrachtungsweisen“ (S. 14) beansprucht, zeigt sich beispielsweise im Heranziehen einer Passage, in der Eisenstein von der Gegenbewegung als der Negation der Negation spricht. Diese Bestimmung übernimmt Eisenstein eins zu eins von Engels, Lenin und anderen, d. h. von dem zu einer allumfassenden Weltanschauung verflachten Dialektischen Materialismus, den man – da er kaum etwas mit Marx’ Forschungsprogramm der Kritik der politischen Ökonomie zu tun hat – besser als einen ‚Engelsismus’ statt als einen Marxismus bezeichnet. Eisenstein erhebt diese Bestimmung aber zum ‚Grundprinzip’ sowohl des natürlichen Wachstums als auch der gesellschaftlichen Entwicklung. Ob er dabei selbst jemals die grundlegende Differenz zwischen den marxschen Schriften und dem von Engels, Kautsky, Lenin und Co. initiierten und kanonisierten ‚Diamat’ wahrgenommen hat, wäre eine lohnende Fragestellung gewesen. Eine Antwort darauf würde z. B. erhellen, warum Eisenstein auch den theoriegeschichtlich vorbelasteten Begriff der Dialektik, der in der Studie allerdings ungeklärt bleibt, stets und hartnäckig aus der engelsschen Dialektik der Natur, diesem frühen Lehrbuch der marxistisch-leninistischen Weltanschauung, zitiert. Durch und durch entspricht hier sein beharrliches Streben, das Grundprinzip der künstlerischen Wirklichkeitsverarbeitung schlechthin eruieren zu wollen – jenes ‚Grundproblem’ zu lösen also, das auch den Titel für sein zeitlebens entwickeltes, aber nie abgeschlossenes Buch abgegeben hat – diesem weltanschaulichen wie wahnwitzigen Bedürfnis des traditionellen Marxismus, alle Phänomene: natürliche, soziale, psychische usw. aus einer Handvoll identischer, ‚dialektischer’ Grundprinzipien erklären zu wollen. Auch Eisenstein überschreitet dabei in seinen späten unveröffentlichten Entwürfen oft genug unbekümmert die Grenze zwischen einer speziellen Fragestellung nach der eigentümlichen Wirkungsweise künstlerischer Formen und ihres „sinnlichen Denkens“ hin zu der nach dem Denken überhaupt, indem er bescheiden pompös beansprucht, die ewigen Bewegungsgesetze der Natur, des „Universums“, ja, des „gesamten Seins“ als solchen begriffen und ihr materielles Ausdrucksäquivalent in der Kunst gefunden zu haben (vgl. Sverchpredmetnost’ i sverchtelesnost’/Übergegenständlichkeit und Überkörperlichkeit. In: Neravnodušnaja priroda, Bd. 2, S. 240, 246; K voprosu nadystoričnosti/Zur Frage der Übergeschichtlichkeit. In: ebd., S. 257). Die vorliegende Studie folgt ihm nun bei dieser metaphysischen Bedürfnisbefriedigung mit einer bemerkenswerten Gleichmut.
Beispielhaft zeigen sich die problematischen Konsequenzen daraus in einer minutiösen Formanalyse des Films Panzerkreuzer Potemkin (1925). (vgl. S. 98–168) Hier werde, so der Verfasser, der Rhythmus zum übergeordneten Gesetz erhoben, „das die Formkonflikte zwischen heterogenen Bildern als Einheit im Wandel – als Zeit – erlebbar macht.“ (S. 93) Demgegenüber ist es jedoch anzunehmen, dass gerade umgekehrt der Rhythmus auf Zeit basiert und diese wiederum auf einer Formgebung durch die spontane Tätigkeit der – historisch-gesellschaftlich bestimmten und prinzipiell wandelbaren – Verstandes- und Sinnesformen. Auch die Behandlung der Synekdoche, der formalästhetischen Grundfigur des Potemkin, ist in dieser Hinsicht bezeichnend. Das Allgemeine, das sich in der Metapher des Teils für das Ganze zeigt, ist aus dem Einzelnen (Teil) nicht abzuleiten. Jenes ‚Typische’, das Eisenstein in seinen konfrontativen Bildern zeigt, muss vielmehr bereits künstlerisch als solches gedacht gewesen sein, ehe es mit Bildern inszeniert werden kann. Der Autor dagegen reduziert es auf einen mechanischen Effekt des Zusammenstellung formaler Oppositionen: „Was ermöglicht diese Generalisierungen? Letztlich die Gegenüberstellung von Einstellungen, die als unterschiedliche partes dasselbe totum evozieren […].“ (S. 97) So gelangt er zur irrationalen Vorstellung, wonach die Generalisierungen sich aus den sich naturwüchsig zusammensetzenden Einstellungsfolgen ergeben – wobei doch umgekehrt diese Generalisierungen die sinnvollen und formal zusammenhängenden Einstellungsserien gedanklich erst ermöglichen. Eine solche empirizistische Erkenntnistheorie im Geiste des leninschen Machismus hat Eisenstein in impliziter Form tatsächlich ursprünglich vertreten, später jedoch selbst verworfen (vgl. Bordwell 1993, S. 168–177).
Der Autor konstatiert dabei selbst durchaus die geschichtsphilosophischen Wurzeln des eisensteinschen Kunstverständnisses: „Er verfilmt […] ein geschichtsphilosophisches Konzept, das darin besteht, Veränderung als prozessuale Entwicklung eines Zustands aufzufassen, das nur im intuitiven Sprung eine neue Zeit jenseits seines Ursprungs erreicht.“ (S. 105) Allerdings begnügt sich der Verfasser mit einem allgmeinen Hinweis darauf, diese Geschichtsphilosophie entnehme Eisenstein der „hegelianisch-marxistischen Tradition“ (ebd.), um sie anschließend mit seiner Konzeption von Pathos und Ekstase in Verbindung zu bringen. Wie diese Pathos-Konzeption, dem Autor zufolge das A und O eisensteinscher Kunstauffassung, mit der literatur- und kunsttheoretischen Diskussionen über den Sozialistischen Realismus und den metaphysischen Grundannahmen des diesem zu Grunde liegenden Dialektischen Materialismus zusammenhängt, führt er nicht weiter aus. Das Ziel dieser Konzeption, das „Umschlagen“ im Bewusstsein des Rezipienten, wird dabei mit dem Erreichen des „Kairos“, des „einen“ „günstigen“ Zeitpunktes im Gegensatz zum gleichmäßigen, vorstrukturierten „Chronos“ assoziiert, statt es, wie nahe liegender, mit der 1938 von Stalin persönlich ‚präzisierten’ „dialektischen“ Lehre des qualitativen Sprunges (skačok) in Bezug zu setzen (vgl. Bordwell, S.192). „Das paradoxe Ziel des temporalen Baus ist die Gestaltung einzigartiger Zeitpunkte, in denen Langsamkeit und Lethargie in Eruption und Intensität überspringen“ (S. 107) – gerade so, wie bei einem religiösen Wunder also (vgl. ebd.). Dieses Umschlagen in der Imagination und der Zeitdarstellung muss aber noch nichts weiter mit dem realen Umschlagen sozialgeschichtlicher Zeit zu tun haben. Dieser Unterschied markiert freilich auch die Trennungslinie zu einer weltanschaulich-mystischen Vorstellungswelt, von der der ‚Diamat’ nicht weit entfernt ist und für die eine Darstellung der Realität bereits dieser selbst entspricht (mechanizistische Abbildtheorie der Erkenntnis). Ohne diese Zusammenhänge zu erhellen, interpretiert der Autor Eisenstein in letzter Konsequenz selbst als einen religiös-mystisch orientierten Künstler: Es sei in den „Mysterienreligionen“ (S.106), in denen sich die nächsten Verwandten eisensteinscher Verschmelzung und Ekstase fänden.
Nach einem universellen pathetisch-ekstatischen künstlerischen Organisationsprinzip suchend, wird dieses dann mit dem formalästhetischen Verfahren des Goldenen Schnitts identifiziert, das in Potemkins Montagebau und Bildgestaltung vielfach eingesetzt wird: „Das Prinzip des Goldenen Schnittes auf die Zeit zu übertragen, ist gut begründet, weil dieses Verhältnis viele natürliche Wachstumsvorgänge beherrscht und darum auch als zeitliche Dynamik eine prägende Weltstruktur ist“. (S. 115) Dieses Prinzip beherrscht allerdings ebenso viele Phänomene wiederum nicht: Die durch die Fibonacci-Zahlen ausgedrückte Proportion kommt zwar in einer Reihe verschiedener Naturphänomene vor, etwa im Bau einiger Pflanzen – bei anderen jedoch nicht. Gleiches gilt für die Kunst: Bei einigen Malern der Renaissance etwa wirkt sie, bewusst oder unbewusst, formstrukturierend, bei anderen lässt sie sich nicht als strukturelles Prinzip aufweisen. Hier schreibt Lenz mit Eisenstein einen Mythos fort, indem eine mathematische Regel, die bestimmte Zusammenhänge in den Naturphänomenen und menschlichen Erzeugnissen zu messen erlaubt, auf die gesamte Natur wie den ‚Kosmos überhaupt’ ausgedehnt und die ekstatische Subjekt-Objekt-Verschmelzung im Kunsterleben, die diese Regel ermöglichen soll, zum höchsten Erlebnis des ‚gesamten Seins’ erklärt wird. Bei Eisenstein selbst, so der Autor, sei dieser Prozess halbbewusst: „Daß er nicht bewußt auf den Goldenen Schnitt hinzielte, bricht seine Vorstellung rationaler Planbarkeit der Effekte. Der Goldene Schnitt der Zeit hat sich als autonomes Prinzip in den Film geschlichen. Obwohl Eisenstein in jedem Moment Expression jenseits des bloß Natürlichen sucht, ist seine zeitliche Gestaltung eine direkte Welt- und Naturabbildung [sic., herv. v. Rez.]. Seine Zäsurfindungen sind nur bedingt Entwürfe. Sie sind Einflüsterungen der Wirklichkeit, zu der Eisenstein als Mensch selbst gehört und der er körperrhythmisch folgt. Diese Wirklichkeit findet an seiner bewußten Steuerung vorbei in den Ablauf auf der Leinwand. Eisenstein wird darin zum Medium eines größeren Weltgesetzes.“ (S. 116) – Damit überschreitet die Studie endgültig die Grenze zur Mystik in Gestalt der Lehre von dem durch die Natur ergriffenen Künstler als „Medium“ der „Weltgesetze[…]“, wie dies besonders im abschließenden Kapitel über das Pathos deutlich wird.
Darin entwickelt der Autor seine Schlussfolgerungen anhand beider oben erwähnten Texte aus dem Sammelband Eine nicht gleichmütige Natur. Wie und aus welchem Grund entstehe das Gefühl der ekstatischen Verschmelzung Eisenstein zufolge? Als Antwort wird eine, dem Marxismus-Leninismus wie einem Mystizismus gleichermaßen angemessene, mechanizistische Abbildtheorie vorgetragen: Weil sich „der Zuschauer mit dem Zeitbau der Komposition identifiziert, die ihrerseits die Weltenwicklung kopiert.“ (S. 386) Die dargestellte Zeit sei nach Eisenstein allerdings gleichsam ein Bild des Undarstellbaren: Das Gefühl der Ekstase selbst sei künstlerisch gar nicht zu fassen, nur sein ‚Strukturbild’. Die Zeit als solche, unabhängig von jeder inhaltlicher Bestimmung, sei ihr Träger und ermögliche das Erleben der Teilnahme am ‚Weltprozess’. Eisenstein zufolge trete dieses Erleben unterschiedslos in den Werken aller Epochen auf, die allesamt nichts weiter als Kopien des Weltprozesses aufzufassen sind. Eisenstein – und mit ihm der Autor – scheuen sich dabei nicht das Objekt dieses Erlebens mit den theologischen Attributen wie Ungreifbarkeit und Unfassbarkeit – gewöhnlich einem absoluten Wesen oder Gott zugeschrieben – zu charakterisieren: „Denn der Charakter der Wirkung liegt gerade in der Ungreifbarkeit subjektiv erfahrener Zeit“ (S. 387). Für Eisenstein sei die Ekstase das Hinausgehen über das Verstehen. Zwar verwerfe er die religiöse Ekstase und postuliere stattdessen die Kunst als materialistisches ekstatisches Mittel. Doch diese Distanzierung sei nur oberflächlich. Eisenstein verwende die christliche Ikonografie nicht im eigentlichen Sinne, insofern er diese zur Feier der säkularen Revolution umwidme. Dies sei ihm allerdings nur deshalb möglich, weil die christliche Ikonografie, etwa die Umdeutung des Matrosen Vakulinčuk in Potemkin als Märtyrer für das Volk, ohnehin ein naturwüchsiger Ausdruck des „Weltprozesses“ sei (S. 388): „Dabei lassen sich die christlich rituellen Lösungen auch als Materialisierung des ihnen vorausgehenden allgemeinen Weltprozesses verstehen. Insofern kann man nur bedingt von Übernahmen sprechen“ (ebd.). Der Autor nivelliert damit jeden historischen Unterschied etwa zwischen dem säkularen Sowjetrussland und dem religiös dominierten vormodernen Russland der Feudalepoche: „Eisensteins Prozesse entsprechen denen der Religion. Beide sind in Eisensteins Auffassung gleichermaßen Kopien der Entwicklung des Universums.“ (ebd.)
Die zum Schluss dann eher rhetorisch gestellte Frage, ob sich Eisenstein am Ende überhaupt von der Gleichsetzung des ekstatischen Zustandes mit dem Gott in der magischen Urreligionen unterscheide, wird lapidar mit der Behauptung abgetan, Eisenstein sei eben kein Ideologe: „Die zeitlose Seite der Kunst Eisensteins ist gerade die, in der das ideologische Konzept im wahrhaftig gestalteten Prozeß nicht auf-, sondern untergeht.“ (S. 391) Konsequenterweise müsste der Verfasser nach diesen Texten aus der Spätphase Eisensteins den Film adäquat als eine Kunstreligion bestimmen, die im Spannungsverhältnis zwischen den regressiven, pathetisch-ekstatischen, und den progressiven, aufklärerischen, Tendenzen der künstlerischen Erkenntnis – Eisensteins „Grundproblem“ – steht. (vgl. S. 392) So wie jedoch er Eisenstein interpretiert, sei der Rhythmus und die permanente, ununterbrochene Zeitgestaltung als Prozess der Steigerung des Erlebens hin zum Pathos das Charakteristikum seiner und überhaupt jeder Kunst („permanente Abfolge gleichwürdiger Spiegelbilder“, S. 392). Damit macht er die Kunst zu einer Art mystischem Gottesdienst, zu einem von jeglichen historisch-gesellschaftlichen Besonderheiten unberührten, geheimnisvollen ekstatischen Erlebnis der „Weltgesetze“. Im Grunde beschreibt er Eisenstein hiermit als einen Pantheisten: Mit seinen Filmen betreibe er eine „kosmische Recherche“ (S. 395), wobei „in letzter Konsequenz […] die Bewegung der Welt sein Gott“ (ebd.) sei. Die Abbildtheorie kippt in einen expliziten Mystizismus um, der im differenzlosen ekstatischen „Außersichgeraten“ (S. 396) das je einzelne Materielle der Dinge und ihr konkretes sozialformales Gestaltetsein gerade verwässern muss. Am Ende bleibt nichts als eine künstlerische Gottesschau: „Das Gefühl des einen Gesetzes, das alles durchdringt, ist nicht faßbar, nicht formulierbar, nur erlebbar. Aber gleichzeitig entsteht eine konkrete Spur: die Zeit.“ (ebd.) Gott werde bei Eisenstein „verzeitet“ (ebd.). Vergeblich versucht der Verfasser dies als lediglich einen „theologische[n] Oberton“ abzutun. Eisenstein wird in den esoterischen, kurz vor seinem Tod 1947 niedergeschriebenen Entwürfen, die er selbst nie veröffentlicht hat, zu einem Mystiker, so bereits Joan Neuberger (vgl. Ivan the Terrible, London/New York 2003: Eisenstein „reveals himself als psychoanalytically-oriented mystic“, S. 129), der sich auch zu einigen wahnhaften Spekulationen hinreißen lässt („Theoretisch gesprochen, sollen wir in der Lage sein die Bewegungsgesetzte der Materie durch die Selbsterkenntnis aufzudecken und zu fühlen“, S. 398) und die ekstatische „subjektive Erfahrung“ der „Weltgesetze“ für möglich hält (vgl. ebd.).
Die Studie stülpt diesen Teil des eisensteinschen Werks über das Ganze. Darin lässt sie das einheitlich Bild Eisensteins kulminieren, das alles, von der frühen Attraktions- und der intellektuellen Montage bis hin zur späten Pathoskonzeption, in sich bruchlos aufnimmt. Eisensteins geschichtsphilosophisch untermauertes Kunstverständnis aus der Spätphase lässt sie unverkrampft in eine künstlerische Theologie übergehen als eine „suprahistorische“ Selbstentfaltung Gottes: „Gerade weil alle Epochen in einem gemeinsamen geschichtlichen Zusammenhang stehen und in derselben Welt verbunden sind, findet eine veränderliche Wirklichkeit stets im selben Strukturgesetz zusammen, und bereits früheste Bilder sind nahe Spiegelbilder“ (S. 399). Damit serviert sie auch eine gute Portion Zynismus, der das Leiden der Generationen zu einer bloßen Frage der Perspektive erklärt: „Es ist nur eine Frage der Perspektive, ob man den Umsturz [sc. die Oktoberrevolution und die Auflösung der Sowjetunion] als Beginn einer neuen Welt versteht oder aus größerer Distanz einen stets kreisenden Wachstums- und Verfallsprozeß in melancholischer Anteilnahme betrachtet.“ (S. 400) Für das hier entworfene monolithische Bild Eisensteins, hinter dem die tatsächliche widersprüchliche Künstlerfigur verblasst, die im Film formale und experimentelle Maßstäbe gesetzt hat, stehe, so der Autor, an der Stelle der Gemeinschaft der Heiligen die der Künstler: In der Kunst zeige sich der Dialog zwischen den Zeiten als erhalten, dort manifestiere sich die „tröstliche Verwandtschaft zwischen den Epochen. Dies ist Eisensteins Himmel, […] sein persönlicher Trost in grausamer Zeit.“ (S. 401)
Empfohlen sei es den Leserinnen und Lesern, zwar keinen Trost, aber allemal Genuss und Einsicht bei den Filmen Eisensteins zu suchen, statt dem vielfachen Überschreiten der Grenze zum Obskurantismus in dieser mit Material gesättigten Studie zu folgen, die eine angemessene analytische Distanz zu ihrem Gegenstand vermissen lässt. Eisenstein ist es um eine materialistische Begründung der Kunst gegangen, ohne sich vom epistemologischen Feld des Dialektischen Materialismus mitsamt seinen metaphysischen Grundannahmen gelöst zu haben.
Für einen instruktiven Überblick über die in seinem gesamten Werk zum Vorschein kommende Wechselwirkung der Filmtheorie und Filmpraxis sowie über ihr Verankertsein in den kunst- und erkenntnistheoretischen Strömungen und Debatten der frühen Sowjetunion möchte ich auf die nach wie vor maßgebende Arbeit von Bordwell (1993) verweisen.
März 2010
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