Kooperation an den Grenzen der Medienwissenschaft
Der Workshop «The Translation of Boundary Objects» in Siegen widmete sich den Schriften der 2010 verstorbenen Wissenschafts- und Techniksoziologin Susan Leigh Star.
Angekündigt wurde der Workshop als ein vorbereitendes Treffen für einen Übersetzungsband mit zentralen Aufsätzen Susan Leigh Stars, von denen viele erstmals in deutscher Sprache abgedruckt werden würden. An den Grenzbereichen der Forschung Susan Leigh Stars sollten, so die Hoffnung der Initiatoren Nadine Taha und Sebastian Gießmann, disziplinübergreifende Anknüpfungspunkte vor allem für die Medienwissenschaft entstehen. Unter anderem arbeitete Star zu technologischen und medizinischen Standardisierungen und Standards, wobei sie sich insbesondere für die von ihr so bezeichnete «unsichtbare Arbeit» interessierte, zudem schrieb sie aus einer feministischen Perspektive über Marginalität in modernen Gesellschaften. Star forschte ethnographisch und mittels qualitativer Methoden auch zu Informations- und Kommunikationsinfrastrukturen. Diese disziplinäre Heterogenität spiegelte sich in der Einladungsliste des Workshops wider: Gäste und Siegener aus Medienwissenschaft (Ulrike Bergermann, Christine Hanke, Gabriele Schabacher, Erhard Schüttpelz), Soziologie (Jörg Strübing, Cornelius Schubert), Ethnologie (Cora Bender), Informatik (Gunnar Stevens) und Technikgeschichte (Monika Dommann) standen auf der Rednerliste der zweitägigen Veranstaltung und sollten durch ihre unterschiedlichen Perspektiven in Form von Kommentaren zur Klärung von «Fragen der Übersetzung» beitragen. Die Keynote hielt Geoffrey Bowker (University of California, Irvine), wenn auch technisch vermittelt per Video zugeschaltet. In den Überschriften der vier Panels zeigte sich eine Schwerpunktsetzung, die sich an den Forschungsgebieten Susan Leigh Stars orientierte: Die Grenzobjekte waren gleich zweimal vertreten, daneben fanden sich die Themenkomplexe «Marginalität» sowie «Infrastrukturen und Standards».
Sebastian Gießmann (Universität Siegen) stellte das von Susan Leigh Star und James R. Griesemer entwickelte Konzept der «Grenzobjekte» in den Mittelpunkt seiner einführenden Worte. Die Definition aus der viel zitierten Museumsstudie lautet dabei wie folgt:
Boundary objects are objects which are both plastic enough to adapt to local needs and the constraints of the several parties employing them, yet robust enough to maintain a common identity across sites. They are weakly structured in common use, and become strongly structured in individual-site use.1
Dazu zählen, wie Gießmann noch einmal rekapitulierte: Sammlungen, Inventare und ‹Stapel›, Diagramme und Atlanten sowie standardisierte Formen und standardisierte Methoden der Objektherstellung, die für verschiedene Gruppen unterschiedliche Funktionen haben können. Grenzobjekte sind, der Definition nach, zwar global vorstrukturiert, jedoch flexibel genug, um lokal spezifisch ausgeformt zu werden.
Als nächstes erläuterte Nadine Taha (Universität Siegen) in ihrer Einführung den weiteren Rahmen des Treffens. Sie beschrieb das in Siegen geplante Buchkonzept, das neben den Übersetzungen der in den beiden Tagen des Workshops verhandelten Schriften auch die Gast-Kommentare zu veröffentlichen vorsieht. Der Sammelband wird dabei ein Parallelprojekt zum geplanten Erinnerungsband Boundary Objects and Beyond. Working with Leigh Star (herausgegeben von Geoffrey Bowker, Stefan Timmermans, Adele Clarke und Ellen Balka), mit dem Unterschied, dass das Siegener Buch dezidiert die medienwissenschaftliche Einordnung und Aneignung von Stars Texten beabsichtigt.
Als erstes reflektierte Jörg Potthast (Universität Siegen) den Text «Layers of Silence, Arenas of Voice». Darin geht es um ein Kernanliegen Stars: die «unsichtbare Arbeit» offenzulegen. Unsichtbar sei Arbeit immer dann, wenn sie mit Scham belegt sei und daher aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinde oder im Verborgenen operieren müsse oder wenn die Interessen der ArbeiterInnen institutionell unterrepräsentiert seien. Potthast ging auf die im Text behandelten Beispiele der häuslichen Altenpflege ein, in der hauptsächlich Frauen mit Migrationshintergrund beschäftigt sind – und auf die Informatik als Arbeit, die gewissermaßen hinter ihrem Endprodukt verschwindet. Zur Beschreibung der Arbeit der Unsichtbarmachung schlug Potthast den Begriff der Verschiebearbeit vor. Er bezweifelte, dass Stars Plädoyer für die Ethnographie als einzige geeignete Methode zur Sichtbarmachung unsichtbarer Arbeit tatsächlich Sinn ergibt. Schließlich sei die Ethnographie selbst eine Praxis der Sichtbarmachung. Daher plädierte Potthast dafür, die Analysen in Richtung «mobiler Arbeit» und in Richtung «normativer Arbeit» auszubauen. Denn einerseits würden sich die Ökologien des Unsichtbaren und Sichtbaren durch technische Netze geographisch und kulturell verschieben, wodurch der Aufwand der Explikation und Sichtbarmachung in der Analyse steige. Andererseits seien Tätigkeiten der Explizierung unsichtbarer Arbeit selbst nicht neutral und durchsichtig und veränderten die im Fokus stehende Arbeit, weswegen die normativen Prinzipien der Forschung selbst expliziert werden müssten.
Den wohl persönlichsten Text Stars kommentierte im Anschluss Nadine Taha: «Power, Technologies and the Phenomenology of Conventions». Ausgehend von ihrer Lebensmittelallergie und der Schwierigkeit, einen zwiebellosen Hamburger bei der Fast-Food-Kette McDonald‘s zu erhalten, führt Star darin die machtvolle Erfahrung von Marginalisierung vor Augen. Eine nonkonforme Nutzung von Technologien, so die Kernaussage dieser Schrift, sei in erster Linie Ausdruck von Heterogenität, während das Erleben von Marginalität immer erst an der Schnittstelle zwischen Selbstbeschreibung und Fremdzuschreibung entstehe. Star bietet ein konzeptuell vielschichtiges Repertoire zur Untersuchung von Marginalisierungen an, dem Taha eine theoretische Rahmung mit der kultursoziologische Schrift Über einige primitive Formen der Klassifikation von Émile Durkheim und Marcel Mauss an die Seite stellte. Auf diese Weise sei es möglich, zu spezifizieren, warum die Produktion und Nutzung von Standards in direktem Zusammenhang mit den Praktiken des Klassifizierens steht. Wie die Praktiken der so genannten symbolischen Klassifikation ebenso herausstellen, unterdrückt Technik keine Distanz, sondern schafft sie durch gleichzeitige Verwandtschaft und Ordnung von natürlichen, technischen und sozialen Größen. Während so die Totalität von Marginalisierungen fassbar werde, setzt nach Taha hier die Leistung von Grenzobjekten an, denn ihre mediale Vermittlung beruht auf ihrer Positionierung. Das Objekt wird übersetzt, um den multiplen Ansprüchen der Akteure zu genügen, die sich um das Grenzobjekt herum versammeln. Grenzobjekte sind daher Medien der Kooperation, da sie in der Mitte agieren und von dieser aus Praktiken und Interessen verbinden, damit die Gruppen, die mit ihnen arbeiten, jedoch auch getrennt operieren können.
Cora Bender (Universität Siegen) betonte ihre Position als Ethnologin und bereitete das Auditorium auf diese Perspektive vor: «You asked for it!» Sie verband in ihrem Kommentar des Textes «Living Grounded Theory» Stars Forschung und das reflexive Denken der Ethnologie und betonte den methodologischen Stellenwert der persönlichen Erfahrung in der ethnographischen Wissensproduktion. Dabei schlug sie den Bogen zur im Text verhandelten Grounded Theory, mit einem Exkurs über die Suche Stars nach einer wissenschaftlichen Heimat, die sie nach «kurvenreicher Fahrt» schließlich in eben dieser fand. Bender griff in ihrem Kommentar den sowohl für die Ethnologie als auch für die Grounded Theory zentralen Aspekt der Codierung auf, der im Text selbst durch einen Exkurs auf die Methode der Ethnographie eingeführt wird. Die Begegnung mit einem Rotfuchs in der Einfahrt des Hauses von Susan Leigh Star wird für die Autorin zu einer Begegnung mit dem Fremden. Darauf aufbauend arbeitete die Kommentatorin heraus, wie sich in den Kodierungen der Ethnographie und der Grounded Theory Momente der Verbundenheit und Trennung mit den Objekten einschrieben und die wissenschaftlichen Codes selbst zu einem Teil des akademischen Reifeprozesses werden. Sie habe den Text mit Gewinn gelesen, jedoch kritisiere sie die deskriptive Ebene des Textes, die vor allem mit Assoziationen arbeite.
Den Höhepunkt des Tages bildete die Video-Keynote von Geoffrey Bowker mit dem Titel «Boundary Objects and Beyond», gerade weil sich sein Kommentar von den theoretischen Modellen entfernte. Bowker betonte Stars eigene Marginalisierung und wie dieses ‹not-fitting-in› als reflexives Moment in ihre Arbeit mit einfloss. Anschließend entwarf er mit persönlichen Worten und Bildern eine politische und intellektuelle Trajektorie des Stars‘schen Denkens und nahm die Zuhörerinnen mit in die ländliche Arbeitergegend bei Rhode Island, wo Stars frühes Interesse für Philosophie nicht befriedigt werden konnte, und von dort aus nach Venezuela, wo sie gemeinsam mit anderen eine Öko-Kommune gründete, und schließlich wieder zurück in die Vereinigten Staaten, wo sie einen Neuanfang an der Universität wagte. Nach einigen Umwegen auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Heimat promovierte sie schließlich im Jahre 1983 bei Anselm Strauss an der University of California in San Franscisco mit einer wissenschaftssoziologischen Studie über die frühe Hirnforschung. Während der Arbeit an der Dissertation entwickelte sie das Konzept der Boundary Objects und die Hinwendung zu den Science and Technology Studies brachte sie 1987 für ein Jahr als Fellow an das Centre de sociologie de l’innovation der Êcole des Mines nach Paris. Hier arbeitete Star mit Bruno Latour und Michel Callon zusammen und hier lernten sie und Bowker sich kennen. Daneben streifte der Vortrag Stars späte Kenntnis von ihren jüdischen Wurzeln, ihre Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem Feminismus sowie ihre Hinwendung zum Buddhismus.
Am zweiten Tag machten Sebastian Gießmann und Gunnar Stevens (Universität Siegen) den Auftakt. Gießmann rekonstruierte die der Entfaltung des Grenzobjekt-Begriffs vorhergegangene Arbeit Stars an ihrer Doktorarbeit «Regions of the Mind. Brain Research and the Quest for Scientific Certainty». In Stars Dissertation lieferte das Interesse an den «common boundaries» medizinischen Arbeitens bereits einen zentralen Ansatzpunkt. Zur expliziten Entfaltung kam das Konzept der Grenzobjekte erstmals in einem Artikel, der im Kontext der informatischen Artificial Intelligence-Forschung der 1980er-Jahre entstand. «The Structure of Ill-Structured Solutions. Boundary Objects and Heterogenous Distributed Problem Solving» nahm dabei Kooperationsvorstellungen und -modelle der AI wie die sogenannten blackboards mit auf. Stars Entfaltung der Grenzobjekte betonte, wie Gießmann zeigen konnte, die Produktivität schlecht-strukturierter Lösungen für die kooperative Arbeit mit digitalen Medien. Im zweiten Teil sprach Gunnar Stevens über die Rolle der Boundary Objects für die Informatik. Die Kernfrage für die GestalterInnen von Informationssystemen sei, wie Boundary Objects in die Welt kämen. Sind Boundary Objects das Ergebnis oder die Voraussetzung von Kooperation? Aus Sicht der Technikentwicklung versteht Stevens die Boundary Objects auch im Sinne einer Innovationsgeschichte. Produkte wie die Apple Watch werden auf den Markt geworfen, und dann wird geschaut, ob sich neue Kooperationsbeziehungen zwischen NutzerInnen und EntwicklerInnen ergeben.
An dieser Stelle entstand die retrospektiv gesehen wohl intensivste Diskussion des Workshops, in der Jörg Strübing daran erinnerte, dass sich Boundary Objects nicht gestalten lassen, da sie stets prozesshafte Ko-Konstruktionen seien, die erst als Ergebnis eines Konflikts modelliert werden können und ihre Ausgestaltung somit nicht planbar sei. Grundsätzlich sei Konflikt wahrscheinlicher als Kooperation und darum müsse die Kernfrage lauten, warum es trotzdem zu Kooperationen kommen kann. Gabriele Schabacher riet an dieser Stelle, doch noch einmal auf die Spezifik der eingesetzten Medien zu schauen, um ihre konkrete Leistung herausarbeiten zu können, denn schließlich gehe es insbesondere für die medienwissenschaftliche Aneignung des Konzepts darum, klar zu stellen, unter welchen Bedingungen Objekte zu Boundary Objects werden.
Die beiden Schlusskapitel von «Sorting Things Out», dem gemeinsamen Werk von Bowker und Star, waren Gegenstand von Cornelius Schuberts (TU Berlin) Kommentar. Im Text geht es nicht mehr um die Grenzobjekte, sondern um Klassifikationssysteme als sozio-materielle Vermittlungsstellen und ihre faktischen Konsequenzen. Als Grundproblem identifizierte Schubert die Unsichtbarkeit des Selbstverständlichen, wobei zwei Arten von Unsichtbarkeit zu unterscheiden seien, einerseits eine politische Unsichtbarkeit, andererseits eine phänomenologische Unsichtbarkeit. Der Kommentar stützte sich auf das Beispiel der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD), das von der World Health Organization herausgegeben wird. An diesem Beispiel zeigten Bowker und Star, wie westliche Todesursachen als Basis herangezogen werden, Krankheiten weltweit zu beschreiben und einzuordnen, wobei Todesursachen z.B. in afrikanischen Ländern keine Berücksichtigung finden. Derlei Ausschlussmechanismen, die Bruno Latour als Reinigungsarbeit bezeichnet, schaffen eine Purifikationslogik, gegen die Bowker und Star die Produktion von Vielfalt setzen: für die Integration von Vielfalt in «categorial work» und «infrastructures».
Im Panel «Infrastrukturen und Standards» kommentierte Gabriele Schabacher (Universität Weimar) den Text «Steps Toward an Ecology of Infrastructure». Es handelt sich um eine gemeinsam mit Karen Ruhleder verfasste Studie über die Etablierung einer Informations- und Kommunikationsinfrastruktur zur Erforschung des ersten vollständig genomisierten Vielzellers, dem Nematoden (Fadenwurm). Interessant sei hierbei, dass dieses «Worm Community System» scheiterte, weil es die BiologInnen trotz anfänglicher großer Zustimmung nicht in den Arbeitsalltag integrierten. Hier liege ein Verständigungsproblem zwischen EntwicklerInnen und NutzerInnen vor, das einen starken Bezug zum von Bateson beschriebenen Problem des ‹double bind› aufweise. Schabacher ging dabei zunächst auf die Merkmale von Infrastrukturen ein, die stets relationale Größen seien, die erst durch ihren Gebrauch ihren Sinn entfalten. Kritisch sei dabei der Zeitpunkt, an dem eine «taken-for-grantedness» – eine alltägliche Verfügbarkeit – eintritt. Ein Problem des Textes sah Schabacher darin, dass nur die Software als Infrastruktur behandelt und der Begriff der Ökologie dabei zwar prominent verwendet werde, jedoch unterdeterminiert bliebe. Ökologie sei aber weder rein physikalisch noch rein sozial bestimmt. Problematisch gestalte sich weiter der umfassende Bezug auf Bateson im Text und die Übersetzung des Ökologiebegriffs, der sich bei Bateson auf den Geist bezieht, in den Kontext der Infrastrukturentwicklung. Hierbei entstehe die Gefahr einer Überbetonung kommunikativer Funktionen der Worm-Community bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Artefakte. Die Lösung die Star und Ruhleder im Text vorschlagen, bestehe nun darin, den Support auf alle Ebenen der Infrastruktur auszuweiten, was sich, so Schabacher, vor dem Hintergrund der Kritik als zu einfach gedacht herausstelle.
In seinem Kommentar zu «Transparency Beyond the Individual Level of Scale» griff Erhard Schüttpelz (Universität Siegen) noch einmal das Problem der Übersetzung auf, das der Workshop durch eine dreifache Arbeit perspektivierte, (1) als konkrete Praxis des Übersetzens der Texte Leigh Stars vom Englischen ins Deutsche, (2) als Übersetzung der Konzepte in die eigene disziplinär präfigurierte «communitiy of practice» der Siegener Medienwissenschaft und (3) als Operation der Übersetzung, die sowohl innerhalb der Akteur-Netzwerk-Theorie als auch bei Susan Leigh Star von zentraler Bedeutung ist. Letzteres bezeichnet Übersetzung als Prozess des Zusammensetzens, der Verbindung von Akteuren und der Zuschreibung und Akzeptanz von Handlungsmustern und Rollen, wie sie Michel Callon in seinem Aufsatz über die Kammmuscheln für die ANT definiert. Das wohl am häufigsten zitierte und auch im Siegener Forschungskontext bedeutende Konzept der Grenzobjekte wurde hier wieder zum Gegenstand einer Debatte über die medienwissenschaftlich relevante Priorisierung artefaktseitiger Potentiale für Übersetzungsleistungen. Dies wurde wiederum von Jörg Strübing dahingehend kritisiert, dass er erneut vor einer Ontologisierung der Boundary Objects warnte. Es handele sich um situativ abhängige Prozesse, die Boundary Objects erst hervorbringen und die Eigenschaften der beteiligten Objekte seien daher zunächst nicht bestimmbar.
Der letzte Kommentator des Workshops war Jörg Strübing (Universität Tübingen). Der Soziologe kam im August 1998 mit seiner Familie nach Urbana-Champaign, um zum amerikanischen Pragmatismus zu forschen. Auf Einladung Stars traf er an der Universität von Illinois unter anderem auf Geoffrey Bowker, Andrew Pickering und andere SoziologInnen, die vor dem quantitativ ausgerichteten, konservativ-formalistischen soziologischen Mainstream in die amerikanische Provinz geflüchtet waren. Jörg Strübings Kommentar behandelte die Schrift «Reckoning with Standards» und betonte, dass Standards immer soziale Konsequenzen zeitigen und dabei eine Historie zu beachten sei, die Entscheidungen und Machteinschreibungen beinhalte. Dabei stellte er die enge Beziehung zwischen Stars Ansatz und dem amerikanischen Pragmatismus heraus, der eine multiperspektivische Analyse der sozialen Gemachtheit von Standards erst ermöglicht, denn Dichotomien werden in dieser Denktradition stets hinterfragt. Dem epistemischen Modell des Pragmatismus folgend, dass das Leben zum größten Teil aus Routinen besteht, operieren Standards dabei stets im Hintergrund und werden nur durch «Misfits» – durch Elemente, die nicht in das Standardisierungssystem passen – sichtbar. Die Betonung legte Strübing dabei auf die Prozesshaftigkeit der Standardisierung: Aus Klassifizierungen werden Klassifikationssysteme, die stets auch Normierung zeitigen. Standards sind daher immer Teil von Herrschaftsformen und ein Standard ziehe immer andere Standardisierungen nach sich, was Strübing im Kleinen anhand des HDMI-Ausgangs am Laptop verdeutlichte, der erst die Umstellung auf HDMI an Beamern erforderte. Ein weiteres, kurioses Beispiel sei die Regelung, dass Überraschungseier nicht in die USA eingeführt werden dürfen, weil Kleinkinder an den Kleinteilen ersticken könnten, während Schusswaffen zu Hause in Ordnung sind, was in Deutschland genau umgekehrt ist. «Da sind wir lässig» kommentierte der Soziologe hier lakonisch. Anschaulich machte Strübing die Theorie schließlich anhand des aktuellen Beispiels der Selbstvermessung innerhalb der Quantified-Self-Bewegung: Der einzelne akzeptiert Normierungen und Standardisierungen, die mit dem Gesamtpaket an Software und Hardware gereicht werden und Hersteller erfinden eigene Einheiten zur Messung körperlicher Leistungen. Diese können dann universelle Gültigkeit erlangen, da die Soft- und Hardware weltweit abgesetzt wird.
Der Workshop «The Translation of Boundary Objects» setzte die bereits seit einigen Jahren betriebene Öffnung der Medienwissenschaft hin zur internationalen Wissenschafts- und Technikforschung fort. Dabei wurde mit Susan Leigh Star das Thema der Grenzobjekte, die eine «Kooperation ohne Konsens» ermöglichen, vor dem Hintergrund medienspezifischer Vermittlungsleistungen in den Blick genommen und einer medienwissenschaftlichen Perspektivierung unterzogen. Am Ende blieb offen, ob die später abgedruckten Versionen der Kommentare eher als Textkritik, Kontextualisierung oder als Vorschlag für den spezifisch medienwissenschaftlichen Theorie-Import verstanden werden sollen, denn alle Gattungen waren beim Workshop vertreten. Doch gerade diese fehlende Klassifizierung sorgt dafür, dass Stars Schaffen selbst zum Grenzobjekt für eine vorantastende Medienwissenschaft werden kann. Der Siegener Band mit Stars Texten ist für 2016 geplant.
- 1Star, Griesemer: Institutional Ecology, ‹Translations› and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley's Museum of Vertebrate Zoology, 1907-39, in: Social Studies of Science, Vol. 19, Nr. 4, 1989, 393
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