Kavka, Reality Television
Die vor allem in der Filmwissenschaft seit gut 10 Jahren geführte Debatte über die mediale Produktion von Emotionen und / oder Affekten (vgl. die Rezension in der Printausgabe der ZfM von Michael Wedel) wurde bislang nur wenig für andere Medien fruchtbar gemacht. Ein einschlägiger Band über „Affektfernsehen“, der 1997 vor dem Hintergrund einer Welle von dramatisierenden Talk Shows publiziert wurde, benutzt in seiner empirisch psychologischen Ausrichtung noch ein weitgehend anderes begriffliches Instrumentarium1; die in der Filmwissenschaft dominanten Fragen nach narrativer Plausibilisierung, kulturell-kontextueller Legitimität und rezeptivem Nachvollzug der Emotionen / Affekte spielen hier keine Rolle.
Ein Grund dieser Differenz zwischen film- und fernsehwissenschaftlichen Perspektiven besteht wohl darin, dass Fernsehen nicht etwa zu wenige, sondern zu viele – und vermeintlich zu eindeutige – Emotionen produziert. Der emotionale Exzess der Großaufnahme in der Soap ist so beispielsweise schon früh festgestellt worden, wie Fernsehen nicht selten pauschal der "Emotionalisierung" (von Politik, von Sport etc.) bezichtigt wurde. Einmal mehr also scheint das Fernsehen zu banal, um die am Medium Film entwickelten ausdifferenzierten Instrumentarien zur Anwendung zu bringen – dies wird lediglich bestätigt, wenn die filmwissenschaftliche Affektdiskussion am ehesten noch auf neue Serienformate ausgeweitet wird, die (etwa aufgrund ihrer starken DVD-Orientierung) zum Teil gar nicht mehr dem Fernsehen zugerechnet werden.
In diesem Kontext stellt der schmale Band von Misha Kavka eine interessante und anregende Intervention dar: Kavka nimmt mit dem ‚Reality TV‘ eine der markanten Realisierungsformen des Fernsehens zum zentralen Bezugspunkt und erschließt anhand dieses, in den letzten Jahren schon sehr intensive diskutierten, Genres nochmals neue Perspektiven auf das Medium, die über das gewählte Beispiel ‚Reality TV‘ hinaus Erklärungskraft beanspruchen.
Sie greift dabei auf Bezugstheorien zurück, die auch die filmwissenschaftliche Diskussion prägen (von Gilles Deleuze und Brian Massumi bis zu Silvan Tomkins und André Green), knüpft ansonsten aber nicht direkt an die filmwissenschaftliche Debatte an; stattdessen benutzt sie diese Theorien, um zu erklären, inwiefern das Fernsehen (und insbesondere das ‚Reality TV‘) Affekte produziert, die sich in der Art ihrer formalen Verfertigung, aber auch in ihren sozialen Konsequenzen grundsätzlich von denen des Films unterscheiden.
Ausgangspunkt ist hier zunächst das häuslich-private Moment des Mediums Fernsehen, das – wie vor allem Margaret Morse gezeigt hat – mit bestimmten Adressierungsformen eine zur Rezeptionssituation parallele Welt entwirft (also nicht wie der fiktionale Film eine andere Welt der Illusion/Imagination, aber auch nicht wie der dokumentarische Film eine reale, aber vergangene Welt). Die daraus resultierende Frage von Kavka zielt weniger als die filmwissenschaftliche Debatte auf Empathie und / oder Identifikation, sondern auf die Möglichkeit einer Erzeugung intimer Beziehungen durch den Bildschirm hindurch – „creation of intimate relations across a screen“ (S. X). Damit stehen von vornherein nicht individuelle Seherlebnisse, sondern auf Affekten aufruhende soziale Prozess im Mittelpunkt.
In seinen beiden ersten Kapiteln, die den im Buch verwendeten Begriffen eine theoretische Rahmung geben (u.a. durch die mittlerweile gängige Unterscheidung von Affekt vs. Emotion), stellt Kavka zunächst heraus, dass medial produzierte Affekte weder schlicht real noch nicht-real sind, sondern gerade zur Differenzierung des Realitätsgehalts medialer Repräsentation beitragen. „The feeling guarantees the reality, and the reality justifies the feeling.“ (S. 24) Die Anfüllung eines Objektes (oder einer Repräsentation) mit affektivem Gehalt ist sozial in mehrfacher Hinsicht: Objekte können erst verstanden und diskutiert werden, wenn sie auch mit Affekten versehen sind – Affekt wird hier als die grundlegende Fähigkeit, Beziehungen zu erstellen, als relationales Geschehen, aufgefasst. Die Affekte sind dabei nie einem Individuum ‚eigen‘; dies gilt umso mehr als gerade das Fernsehen eine immer schon soziale Rezeptionssituation schafft, in der das rezipierte Objekt von anderen, nicht Anwesenden nicht nur gesehen, sondern auch beurteilt wird. (In einem Unterkapitel setzt sich Kavka mit der Scham als dem das Fernsehen am meisten kennzeichnenden Affekt auseinander; geschaut wird nicht als Voyeur/in, in der Angst vom beobachteten Subjekt entdeckt zu werden, sondern als soziales Subjekt, das sein Sehen ggf. sozial rechtfertigen muss.)
Das Fernsehen als Medium bietet mit der häuslichen, intimen Rezeptionssituation, aber auch durch die ‚liveness‘ seiner Repräsentationen (Kavka fasst hierunter sowohl die anonymisierte Gleichzeitigkeit der gestreuten Rezeption als auch die Unvorhersehbarkeit bzw. Ungeplantheit von Ereignissen) einen besonderen Modus der Beobachtung des Verhaltens anderer Leute. Anstelle von Identifikation / Empathie mit Figuren wird fortwährend die Identifikation mit sozialen und affektiven Situationen herausgefordert. Dies nimmt Kavka im dritten Kapitel zum Ausgangspunkt, um den Status der televisuellen Affektproduktion im Verhältnis von Privatheit / Öffentlichkeit zu verorten. Ihre These ist zunächst, dass Fernsehen die Unterscheidung schlicht unterläuft, weil – auf der einen Seite – das Private (‚der Alltag‘) nur durch Veröffentlichung sichtbar und verständlich werden kann, weil – auf der anderen Seite – das Öffentliche nicht als Raum desinteressierter Debatten, sondern durch die Anlagerung und Verkettung (‚privater‘) Affekte entsteht. Fernsehen, resp. Reality TV wäre demzufolge eine Möglichkeit, Gemeinschaften auf der Basis geteilter Affekte zu bilden, ohne dem vorgängige Identitäten zugrunde zu legen: „it does not assume a shared identity as the basis of a group“ (S. 52).
Nachdrücklich (und an vielen Beispielen) verdeutlicht Kavka, dass in den Sendungen des ‚Reality TV‘ bei allen ausgefeilten Casting-Prozeduren, die die Kandidaten durchlaufen und bei aller konventionalisierenden Dramaturgie, die durch die Montage sicher gestellt wird, die Figuren dennoch nicht als Repräsentanten einer Gruppe zur Beobachtung gestellt werden:
„Reality TV […] works by representing the particularity of individuals for its own sake; on reality television, the public is represented by accretion, individual by individual, in a paratactic series that offers to answer the question (if only we had world enough and time), who are the people in your neighbourhood? The participants on reality TV thus become subjects of publicity without losing the particularities that mark them as individuals; the viewers in turn becomes subjects of publicity when they engage, via their intimacy with such particularities, with these private people in the public gaze.“ (S. 62)
Es ist sicher eine Schwäche des Bandes, dass der sozialisierende Effekt, so plausibel er aus dem Affektkonzept hergeleitet ist, hinsichtlich seiner operationalen Verfahrensweisen sehr vage und rein hypothetisch bleibt. Schon angesichts der Formulierungen von Kavka („accretion, individual by individual“) und angesichts ihrer Insistenz auf „mattering“ wäre hier eine Auseinandersetzung etwa mit Bruno Latours (respektive Gabriel Tardes) „Monadologie“ interessant gewesen (wie auch angesichts der Affirmation von "Intimität" die fehlende Bezugnahme auf Richard Sennett bedauerlich ist).
Anregend bleiben die Thesen dennoch – zumal Kavka in drei weiteren Kapiteln, die jeweils auf einzelne Subgenre des Reality-TV fokussieren, sehr gut deutlich machen kann, dass mit den von ihr erarbeiteten theoretischen Konzepten wichtige Aspekte von Reality-TV – und darüber hinaus des Dispositivs Fernsehen – herausgearbeitet werden können. So zeigt sie am Beispiel von Big Brother, wie erst das künstliche, funktions- und institutionsorientierte Setting ‚das Private‘ beobachtbar macht, und dass Reality TV gerade nicht einfach das Private ‚ins Licht der Öffentlichkeit zerrt‘, sondern vielmehr die vielfältigen Prozesse der ‚Indiskretion‘ (und damit auch der Kommodifizierung von Intimität) anschaulich macht. Am Beispiel von Temptation Island beschreibt sie, wie das Fernsehen sich die „romantische Epistemologie“ der Liebe zu nutze macht, um immer wieder neu authentische Affekte – oder besser: ‚affects that matter‘ – zu produzieren.
Es mag zum Teil etwas bemüht erscheinen, noch einmal dem so häufig denunzierten Genre Reality TV analytische und letztlich auch gesellschaftliche Respektabilität zu verleihen. Insofern es hier aber gelingt, eine enorm Anzahl an recht grundlegenden medientheoretischen Themen (Realität-Repräsentation, öffentlich-privat, Identifikation-Affekt, Panopticon-Partizipation etc.) in der Frage nach der televisuellen Produktion von Intimität zusammen zu führen, ist Misha Kavkas Studie mehr als ein weiteres Buch zu einem möglicherweise kurzlebigen Genre.
August 2009
- 1Gary Bente, Bettina Fromm (Hg.), Affektfernsehen. Motive, Angebotsweisen und Wirkungen (Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Rundfunk Nordrhein-Westfalen, Bd. 24). Opladen (Leske u. Budrich) 1997
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