Die Zweiflers
Was uns die preisgekrönte Serie im Frankfurter Bahnhofsviertel über jüdisch-muslimisches Zusammenleben erzählt
In einer Zeit der politischen Spaltung durch die polarisierten Debatten um den anhaltenden Israel-Palästina-Konflikt erzählt die Miniserie „Die Zweiflers“ einen mutigen und wenig beachteten Subplot einer jüdisch-muslimischen Freundschaft im Nachkriegsdeutschland. Die Serie, die kürzlich von der ARD ausgestrahlt und beim renommierten Filmfestival Cannes 2024 mit dem Preis für die beste Serie ausgezeichnet wurde, handelt von den Zweiflers, einer jüdischen Unternehmerfamilie, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Frankfurter Bahnhofsviertel niederlässt. Dort lernen sie auch den muslimischen Kellner Salih kennen: Zwischen ihm und der jüdischen Familie entwickelt sich eine folgenreiche Freundschaft, die die Zukunft des Familienunternehmens maßgeblich beeinflussen wird.
Das Beeindruckende dieser generationenübergreifenden jüdischen Familiensaga sind die facettenreichen Charaktere, wobei „jedes Familienmitglied inklusive der Liebes- und Freundschaftsanhängsel eine eigene Geschichte bekommt“ (taz). Des Weiteren werden die zum Teil komplizierten sozialen Verflechtungen im Frankfurter Bahnhofsviertel nicht ausgespart, um somit kein reines jüdisches Opfer-Narrativ zu erzählen. Die Serie wird dadurch eine selbstbestimmte, komplexe und ambivalente Erzählung: vom „Überlebensdschungel des Nachkriegsfrankfurt“ (Welt) bis in die späten 2010er-Jahre, in denen das Bahnhofsviertel zwischen dem Image eines „Sohos von Frankfurt“ oder des „Zombielands“ und der „Crack City“ pendelt. Das Bahnhofsviertel nimmt eine wichtige Rolle für das Selbstverständnis Frankfurts als Stadt ein, in der Menschen aus vielen Regionen der Welt zusammentreffen. Seine Dynamik und Vielfalt manifestierten sich in seiner geografischen Größe und Demografie als zweitkleinster Stadtteil Frankfurts. Rund 20 000 Menschen arbeiten täglich im Bahnhofsviertel, wobei offiziell nur ca. 3600 Bewohner gemeldet sind, davon 65 Prozent mit Migrationsgeschichte. In den 1950er und 1960er Jahren wagten jüdische Überlebende (Displaced Persons) aus Polen und anderen osteuropäischen Ländern im Frankfurter Bahnhofsviertel einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Neuanfang. Diese trafen in den späten 1960ern auf muslimische Arbeitsmigrant:innen, die ebenfalls das Bahnhofsviertel als Aufstiegschance nutzten. Seit den 2000er Jahren haben die anhaltenden urbanen Gentrifizierungsprozesse, einschließlich jüdischer und muslimischer Restaurants und Bars, einer kleine Musikszene und lokalem Tourismus, neue jüdisch-muslimische Allianzen geschaffen und das Viertel neu gestaltet.
Islamische Hintergrundkulisse
Obwohl „Die Zweiflers“ im Frankfurter Bahnhofsviertel spielt, werden die interkulturellen Verflechtungen in dieser diversen Nachbarschaft und die langjährigen Minderheitenallianzen zwischen jüdischen, türkischen, afghanischen, arabischen und anderen Communitys nur sporadisch angedeutet. Jüdisch-muslimische Themen sind dennoch eine Konstante, etwa wenn es um religiöse Beschneidungen, eine islamophobe CDU-Kampagne oder die Brandanschläge auf Geflüchtetenunterkünfte in Rostock-Lichtenhagen und die Lübecker Synagoge geht. Andere islambezogene Inhalte werden ebenfalls thematisiert, beispielsweise während einer hitzigen Familiendiskussion über die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 oder über den vermeintlichen Anstieg von Antisemitismus durch Muslime. Außerdem werden der 11. September und der Israel-Palästina-Konflikt erwähnt. Neben diesen national überfrachteten Themen werden zahlreiche Diasporaperspektiven entwickelt, um Empathie für verschiedene (post-)migrantische Erfahrungen zu fördern und Spannungen zwischen konservativem Kulturerbe und urbaner Vielfalt aufzuzeigen, mit denen die Familienmitglieder täglich konfrontiert sind. Dabei werden Vorurteile unter migrantischen Gruppen, alltäglicher Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus bei Taxifahrten oder in der Musikindustrie, bis hin zu Ähnlichkeiten in dynastischen Strukturen von Diasporafamilien nicht ignoriert. Hinzu kommt die islamisch geprägte Kulisse des Frankfurter Bahnhofsviertels, in dem Schlüsselszenen wie der erste Kuss zwischen Saba und Samuel oder die Szenen in den hippen Restaurants spielen – zwischen türkischen und afghanischen Supermärkten, Moscheen und den von Migrant:innen dominierten Häuserblocks der Münchener Straße. In diesen Momenten spricht die Serie, wenn auch nur implizit, eine wichtige Diasporathematik an: die langjährigen und oft vergessenen jüdisch-muslimischen Beziehungen in Deutschland, die ein Quartier wie das das Frankfurter Bahnhofsviertel hervorgebracht hat.
Nicht bloß ein türkischer Kellner im jüdischen Restaurant
Gerade diese besondere jüdisch-muslimische Diasporadynamik und Minderheitensolidarität wird in einem wenig beachteten Handlungsstrang angesprochen (spoiler alert). Dies passiert in der Person von Salih, eine muslimisch-türkischer Protagonist, der schon seit Jahrzehnten für die Zweiflers im Bahnhofsviertel arbeitet. Salih, ein männlicher Vorname arabischen Ursprungs, der so viel wie „der Fromme“ heißt, wird von Hussi Kutlucan gespielt. Den Nachnamen der Figur erfahren wir nicht, und auf der ARD-Degeto-Website wird er lediglich als „Kellner“ tituliert.
Dass diese Bezeichnung nicht ausreicht, wird in der Anfangsszene klar, als der junge Samuel Zweifler (gespielt von Aaron Altaras), das Restaurant seiner Familie betritt und sofort auf Salih zu geht, der in seiner weißen Schürze hinter der Theke steht. Samuel begrüßt Salih mit einem Kuss auf die Wange. Hungrig bedient sich Samuel ungefragt einer Rindswurst auf einem Teller, die für einen Kunden bestimmt war. Daraufhin gibt Salih dem „Gelegenheitsdieb“ mit liebevoller härte einen Klaps auf den Hinterkopf, und begründet diese erzieherische Maßnahme mit „Du Frechdachs!“ Nebenbei gibt Samuel Salih noch einen Tipp für eine Bestellung, die er dankbar aufschreibt. Salih, so wird schnell deutlich, ist nicht irgendein Kellner, sondern Teil der Zweiflers und deren Geschäft, er spiegelt dabei ein langjähriges Vertrauensverhältnis und Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Familienbetrieb und Belegschaft wider. Diese Anfangsszene zeigt, wie sehr Salih in das jüdische Familienunternehmen der Zweiflers integriert ist, und ist zugleich auch ein authentisches Beispiel einer lokalen jüdisch-muslimischen Zusammenarbeit in einem multikulturellen Quartier wie dem Bahnhofsviertel. In gewisser Weise soll diese Einführung die „modernen“, von Frankfurt, London und Berlin geprägten Diaspora-Allianzen, Liebesbeziehungen und globalen Freundschaftscliquen vorstellen, in denen Salih nur eine Statistenrolle einzunehmen scheint und gelegentlich als einfacher „Laufbursche“ abgestempelt wird.
Bei näherer Betrachtung wird schnell deutlich, dass Salih eine der wichtigste Rollen dicht an der Seite des Familienoberhauptes Symcha Zweifler (gespielt von Mike Burstyn) innehat und maßgeblich dazu beiträgt, dass das jüdische Feinkostgeschäft fortbestehen wird. Dank ihm können wir uns als Zuschauer:in überhaupt auf eine zweite Staffel freuen. Salih ist der Schlüssel zum Masterplan, den „Juden-Siggi“ (gespielt von Martin Wuttke), eine dubiose Unterweltfigur und früherer Geschäftspartner von Symcha, loszuwerden, da er Symcha wegen einer alten Geschichte erpresst. Dafür muss Salih einen Geldumschlag in Siggis Büro bringen, um ihn zum Schweigen zu bringen. In einer Unterredung warnt Salih den alten Symcha, dass „Siggi niemals aufhören wird“, ihn zu bedrängen. Symcha beschwichtigt Salih: „Ich kann mich doch wie immer auf dich verlassen!“ In Siggis düsterem Büro muss Salih bei der Geldübergabe eine Menge Demütigungen über sich ergehen lassen, inklusive eines heißen Kaffees, den ihm Siggi ins Gesicht schleudert. Trotz der bedrohlichen Lage versucht Salih immer noch, Siggi zu überzeugen, seine Erpressungsversuche gegenüber den Zweiflers einzustellen: „Ich bete jeden Tag.“ Dabei verteidigt er Symcha vehement, der doch „kein Gangster“ sei.
Als Siggi beim Zählen des Geldes bemerkt, das 5000 Euro fehlen, droht er Salih, als inoffiziellem Stellvertreter der Zweiflers, lautstark an die Öffentlichkeit zu gehen, um sie „ein für alle Mal zu erledigen“. In diesem scheinbaren Moment der Verzweiflung nimmt Salih die Schuld auf sich und gesteht, das fehlende Geld vorher verspielt zu haben: „Bitte sag es nicht Symcha. Lass mich nicht meine Würde verlieren.“ Als Pfand bietet er Siggi Uhren im Wert von 30 000 Euro an, die er bei einem Bekannten abholt. Die Episode endet mit einer Razzia in Siggis Büro, bei der die gestohlenen Uhren beschlagnahmt werden. Symchas und Salihs Plan, Siggi durch den Uhrentrick wieder ins Gefängnis zu stecken, scheint aufzugehen. Während der Razzia wird allerdings auch eine vermeintliche Mordwaffe, die Symcha zugeordnet wird, gefunden, was die Zweiflers in noch viel größere Schwierigkeiten bringt, da nun Symcha selbst eine Gefängnisstrafe droht.
Nachdem die Geschäftsnachfolge und andere Familienangelegenheiten geklärt sind, bleibt Symcha nur noch die Option der Flucht. Hier ist es auch wieder Salih, der helfen wird, Symcha und seine Frau Lilka am frühen Morgen nach der Beschneidung des Urenkels außer Landes zu bringen. In einer alten Mercedes-Limousine fährt er Symcha und Lilka heimlich zu einem Flughafen, wo ein Privatjet wartet. Was folgt, ist eine berührende Abschiedsszene zwischen den dreien, in der keine Worte gewechselt werden. Salih lädt die schweren Koffer aus, umarmt instinktiv und schweren Herzens Symcha, der die Umarmung erwidert und ihm wie ein langjähriger Ziehsohn auf die Schulter klopft, als wolle er ihm sagen: Jetzt musst du stark sein. Dann küsst Salih Lilka links und rechts auf die Wange, wie er es in der Vergangenheit schon so oft getan hat, bevor das alte jüdische Ehepaar die Flugzeugtreppe hinaufgeht. Zeitgleich durchsucht die Polizei Symchas Wohnung in Frankfurt vergeblich. Außer Salih scheint niemand der anderen Familienmitglieder von den Fluchtplänen Symchas zu wissen, was wiederum die tiefe Verflechtung und Wertschätzung zwischen den türkisch-muslimischen und jüdischen Diaspora-Gemeinden und deren generationsübergreifende Verbundenheit im Frankfurter Bahnhofsviertel demonstriert.
Fiktion trifft Wirklichkeit
Stuart Hall, der britische Kultursoziologe, beschrieb bereits in den 1980er Jahren die Entstehung diasporischer Netzwerke und postmigrantischer Identitäten in Europa. Diese Entwicklung zeichnete sich bei Jugendlichen mit diversen Migrationsbiografien ab und stand im starken Gegensatz zu den nationalistischen Identitätsvorstellungen einer homogenen Leitkultur. Filme wie Thomas Arslans „Der schöne Tag“ und Fatih Akins deutsch-türkischem Beziehungsdrama „Gegen die Wand“ haben schon in den frühen 2000er Jahren gezeigt, wie sich diese Migrationserfahrungen in Deutschland in den letzten drei Jahrzehnten verändert haben. Dabei verknüpften sie biografische Erzählungen mit komplexen, urbanen Realitäten, inklusive Herausforderungen und kreativen Möglichkeiten, die diese neuen Lebensentwürfe mit sich brachten. „Die Zweiflers“ reiht sich damit auch in eine Reihe von Werken post-migrantisch geprägter Künstler:innen und Filmemacher:innen ein, wie auch am Beispiel des französische Films „La Haine“ von Mathieu Kassovitz deutlich wird, der die Lebensgeschichten und Verflechtungen junger Erwachsener mit arabischen, jüdischen und afrikanischen Wurzeln in einem Pariser Vorort beleuchtet.
Im Rahmen eines Forschungsprojektes, das sich mit jüdisch-muslimischen Begegnungen beschäftigt, konnte ich in den letzten drei Jahren einige der echten Salihs und Symchas sowie ihre Kinder und Enkelkinder im Frankfurter Bahnhofsviertel kennenlernen. Das Bahnhofsviertel mit einem hohen muslimischen und einem kleinen, aber signifikanten jüdischen Bevölkerungsanteil ist dabei ein besonderer Ort, wie es in der Serie eindrücklich dargestellt wird. Die enge Beziehung zwischen Salih und den Zweiflers gab und gibt es zum Teil noch heute. Sie zeigt eindrucksvoll die gelebte Vielfalt und die über Jahrzehnte gewachsene jüdisch-muslimische nachbarschaftliche Symbiose. Muslimische Teenager wie Salih erkannten schon in den 1970ern das Potenzial der jüdischen Geschäftsleute und erwarben wertvolle Kompetenzen von ihnen. Auf der anderen Seite sahen jüdische Unternehmer:innen wie Symcha eine jüngere Version ihrer selbst und fühlten sich an die Frankfurter Nachkriegsjahre erinnert, als der Wohlfahrtsstaat und die Gesellschaft weniger auf die Bedürfnisse von Minderheiten und Migranten achteten. In diesem Zusammenhang waren lokale Geschäfte wie die der Zweiflers „sichere Orte“ für junge Erwachsene wie Salih. Dabei hat auch das damalige Jiddisch sprechende Bahnhofsviertel durch Geschäfte und jüdische Familien seine Spuren hinterlassen, denn es gab bis vor Kurzen noch Jiddisch sprechende Muslime. In ähnlicher Weise erwarben lokale Größen wie Symcha Sprachkenntnisse in Türkisch und Arabisch, die üblich sind im Bahnhofsviertel und teilweise an die nächste Generation weitergegeben wurden.
Trotz dieser scheinbar positiven, bottom-up-Entwicklung ist jedoch kritisch anzumerken, dass die Beziehungen zwischen Muslim:nnen und Juden:Jüdinnen und ihre komplexen Lebensentwürfe in Frankfurt und anderswo in der Öffentlichkeit nach wie vor als “außergewöhnlich” wahrgenommen werden. Tatsächlich kann eine solche "außergewöhnliche" Freundschaft unbewusst auch als Symbol des Unfriedens interpretiert werden, da sie in gewisser Weise an den medial konstruierten Normalzustand der Feindschaft erinnert. Es stellt sich daher die Frage, warum die Mehrheitsgesellschaft über die vielfältigen Lebensrealitäten und positiven Interaktionsmuster von Minderheiten seit Jahrzehnten immer noch Aufklärungsbedarf zu haben scheint. Diese Diskrepanz lässt sich zum Teil nur mit tief verwurzelten rassistischen und antisemitischen Stereotypen erklären, die in Teilen der Gesellschaft nach wie vor präsent sind.
Selbstverständlich soll dies nicht bedeuten, dass Bemühungen wie die „Der Zweiflers“ oder unsere Forschung zu jüdisch-muslimischen Begegnungen ihre Relevanz verlieren. Es bleibt in der Tat von großer Bedeutung, ein breites Publikum zu erreichen. Die Darstellung in „Die Zweiflers“ dieser informellen jüdisch-muslimischen Beziehungen weist darauf hin, dass gerade solche gemeinsamen Minderheitenerfahrungen in einem marginalisierten Quartier langfristige Muster der Konvivialität und vergessene urbane Narrative jüdisch-muslimischer Kooperation offenbaren. Auch nach dem 7. Oktober 2023 ist das Bahnhofsviertel kaum politisiert und ist seiner unpolitischen, lokalen Leitlinie treu geblieben, um das fragile Miteinander nicht durch den Rückbezug auf politische, (inter-)nationale und militärisch geführte Konflikte zu gefährden, was wiederum das langjährig gewachsene Feingefühl hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen des Miteinanders im Bahnhofsviertel verdeutlicht. Dies war sicher auch dem Regisseur und Frankfurter bewusst, als er die Zweiflers schaffte. Den obwohl das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und Israels Vergeltungskrieg während der Dreharbeiten stattfand, thematisierte die Serie es nicht. David Hadda betonte dabei in der Frankfurter Rundschau, dass die Auslassung eine bewusste Entscheidung gewesen sei, um sich stattdessen auf lokal verortete zwischenmenschliche Beziehungen zu konzentrieren, die in der „undifferenzierten Diskussion um den aktuellen Krieg allzu oft vergessen werden“. In der Freundschaft und Zusammenarbeit von Symcha und Salih im Bahnhofsviertel zeigt sich eine jahrzehntelange Beziehung, die von Resilienz und Ambiguitätstoleranz geprägt ist und uns in diesen schwierigen Zeiten zum Nachdenken anregen sollte.
Bevorzugte Zitationsweise
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