Die Kunst des Gleichgültigen
Über «Sun and Sea» auf der Biennale 2019
Es hatte sich längst herumgesprochen: Der goldene Löwe, der erste, eine Nation auszeichnende Preis ist an ein Land vergeben, das zum ersten Mal an der Biennale in Venedig teilgenommen hat: an Litauen. Litauen erscheint, eingehüllt in unseren Wissens- bzw. Nichtwissensnebel, eher verschwommen und weit weg. Wenn überhaupt, taucht der Baltikum-Staat, der wie Estland und Lettland seit 2004 Mitglied der NATO ist, als Datum eines geopolitischen Diskurses auf, als Bastion gegen den ‹Osten›. Dieser enge und beengende Horizont bekommt Risse angesichts des künstlerischen Ereignisses, das unter dem harmlos erscheinenden Titel «Sun and Sea (Marina)» in Venedig zu sehen, zu hören, zu erleben war.
Wie vielfach beschrieben, hat die Aufführung weit weg vom Zentrum des Ausstellungsgeländes, am äußersten Rande des Arsenale, dem Gelände der Flottenbasis der ehemaligen Republik Venedig, ihren theatralen Ort gefunden. In einer große Halle, von Spuren einer vergangenen Geschichten gezeichnet, ist ein Schauplatz installiert, der dem Titel gemäß eine x-beliebige Sand- und Strandszene aufführt. Gerahmt wird der Schauplatz von einer einfachen Galerie, auf welche die Zuschauer_innen über eine steile Treppe gelangen. Nun geht der Blick, mal für längere, mal für kürzere Zeit, mal für eine Stunde, mal für ein paar Minuten, mal schweifend, mal innehaltend, mal durch das vors Auge gehaltene Handy hinunter zu den sich an verstreuten Orten abspielenden Szenen: Zu zweit, allein, zu dritt oder zu viert, mal mit Kindern, die ihren Weg mühsam durch den Sand bahnen, liegen die Schauspieler_innen mit Hund oder Ball, mit einem gelegentlich in die Hand genommenen Handy oder einem Spiegel auf einem ausgebreiteten Handtuch, und in den ewig wiederkehrenden Haltungen und Gesten zergeht die Zeit in Lange-Weile. Eben diese geradezu ritualisiert wiederkehrenden Gesten und Haltungen lösen nun bei der Zuschauerin ein Wiederkennen aus, das die Position des Gegenübers, des Beobachtens zum Schwinden bringt und womit auch der distanzierte Blick als Voraussetzung für eine urteilende Rede, für eine kritische Haltung verliert. Bezogen auf die theatrale Architektur heißt das: Der etablierte Blick von oben zerstreut sich, verliert sich in den sich vervielfältigenden und gleich-gültigen Szenen, die alle jeweils ähnlich und auf ähnliche Weise verschieden sind; wie Faltungen, in welche das Zuschauen eingefaltet ist und eine Welt in der vielfältigen Welt erinnert.
Kurz: Zu einer Performance wird das theatrale Geschehen «Sun and Sea (Marina)», indem sich eine ungeahnte Vielfältigkeit im Auftritt ähnlicher Szenen entfaltet oder ereignet; Szenen, die als alltägliche codiert sind: eben irgendeine Badeszene an irgendeinem Strand, bestückt mit dösenden, sich räkelnden, schlafenden Figuren. Weit davon entfernt, auf diese Szenerie einen kritischen oder irgendwie desavouierenden Blick – den Blick von oben – zu lancieren, verwandelt die Performance die Szene aus Sand und künstlicher Sonne in eine Art Vexierbild, wenn man unter Vexierbild ein Bild versteht, dem, sichtbar-unsichtbar, ein Fremdes, ein Unbekanntes in seine Oberfläche – nicht dahinter oder darunter – eingetragen ist. Es ist eine Verwandlung, welche die Oberfläche oder das Alltäglich-Oberflächliche selbst aufstört und geheimnisvoll werden lässt.
Dieser Prozess wird getragen und vorangetrieben durch das Medium der Musik, die zu einer Musikalisierung und damit zu dem Einschluss des Unsichtbaren in den Schauraum führt: In der Verschiebung von Visuellem ins Auditive und umgekehrt vom Auditiven zum Visuellen entfaltet sich die Musik: Opera Performance, so der Name für diese Operation. Und diese Operation kommt nicht (nur) von außen, sondern sie ereignet sich als ein Fremdes, Unbekanntes in den Figuren selbst: Diese zeigen sich als Schauspieler und Schauspielerinnen, die, ohne es zu wissen, zugleich ein Anderes sind: Sänger und Sängerinnen. In der wunderbaren Komposition ihrer wunderbaren Stimmen, ihrem Gesang, durchwirken und durchfliegen sie den Raum in unterschiedlichen Intensitäten und Tonlagen (Bass, Sopran, Alt, Tenor usw.). Die Stimmen ertönen wie ein dazugehöriges Fremdes mal in chorischem Zusammenklang, mal in im Duett oder es steigt, gleich-gültig, eine einsame Arie auf, mal in chorischem Zusammenklang, mal im Duett, dann wieder steigt eine Arie auf. Mit der Musik (deren technische Herstellungs- und Speicherverfahren im Raum sichtbar sind), mit den sich ereignenden Verschiebungen vom Visuellen ins Auditive entfaltet sich die Szenerie in einen Echoraum, in dem das alltägich Ungesagte, das Ungewusste oder auch Unbewusste gleichsam nachbebt. Bei aller erleichterten Schönheit der Musik, im Atem der aufsteigenden Stimmen ist zugleich ein Dunkles, etwas Beängstigendes mitzuhören: die Harmlosigkeit des Titels – Sea and Sun – nimmt unheimliche Züge an, die den Meeren und den Sonnen unserer Welt innewohnen. Sie werden in der Kunst dieser Opera-Performance spürbar. Nicht trotz, sondern in der Unvergesslichkeit des Anderen: Resonanzraum des Glücks. Es sind drei Frauen, die diese Kunst, die zu einem Nach-Denken ohne Ende anregt, mit ihren Schauspielern produziert haben: Ruglic Barzdziukaité (Regie), Vaiva Grannyté (Gestaltung des Raumes), Lina Lapelyté (Komponistin). Über die Tragweite und Bedeutung dieser Zusammenarbeit wäre, ohne Ende, nachzudenken.
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