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Debattenbeitrag

Maskierung als Methode

Zur Diskussion um das Seminar «Denken und Denken lassen» an der Universität Siegen

22.1.2019

Dass diese Diskussionsveranstaltung über «Wissenschaftsfreiheit und Redefreiheit»1 die Hoffnung auf ein «klärendes Gespräch» in ihrem Titel trägt, wundert mich nicht und ich begrüße das sehr. Denn viele Dinge, die sich im Zuge des Seminars «Denken und denken lassen. Zur Philosophie und Praxis der Meinungsfreiheit» des Siegener Philosophieprofessors Dieter Schönecker ereigneten und nun zu dieser Diskussionsrunde führten, waren von Beginn an unklar und haben im Laufe der Zeit nicht an Klarheit gewonnen, obwohl die Unklarheiten schon wiederholt von den unterschiedlichsten Leuten öffentlich benannt wurden, so dass es mir fast müßig scheint, sie noch einmal in Erinnerung zu rufen: Es beginnt mit der Ausschreibung des Seminars, in dem die Frage gestellt wird, ob man «dezidiert konservative oder rechte Denker» zu Veranstaltungen einer Universität einladen dürfe, und die sich als rhetorische Frage erweist, da diese Einladung bereits ausgesprochen, die Frage damit also schon beantwortet war, und es daher unklar bleibt, was passiert, wenn die Studierenden des Seminars am Ende zu dem Schluss kommen sollten, dass es nicht in Ordnung ist, «dezidiert konservative oder rechte Denker» einzuladen. Dann stellt sich die Frage, wieso überhaupt einseitig nur «dezidiert konservative oder rechte Denker» auftreten - und warum gleich so viele. Und bei der Antwort des Seminarleiters, die das klassische, nicht näher definierte antagonistische Links-Rechts-Schema aufruft, alle eingeladenen «linken» Denker hätten abgesagt, bleibt nicht nur unklar, wer genau als «linke» Denker wie und wann eingeladen wurde und mit welcher Begründung die Eingeladenen abgesagt haben, sondern auch, warum unter diesen Umständen die Veranstaltung trotzdem durchgeführt wird – zudem nicht mit dem Ausdruck eines entschuldigenden Bedauerns, dass die Veranstaltung auf diese Weise eine Schlagseite bekommt, sondern eher noch als Argument für die Offenheit und Freiheitlichkeit der «dezidiert konservativen und rechten Denker» und die Verbohrtheit und den diktatorischen Dogmatismus der Linken, welche in diesen Erklärungen als Antagonisten des Seminarleiters erscheinen.

Und natürlich bleibt unklar, was dies alles mit Meinungsfreiheit und ihrer angeblichen Unterdrückung zu tun haben soll, wenn lauter Menschen eingeladen werden, die zu den Privilegierten dieser Gesellschaft gehören (das heißt, die Bundestagsabgeordnete, Bestsellerautoren oder, wie Herr Schönecker selbst, weiße männliche Professoren sind) und in allen Medien zu sehen, zu hören und zu lesen sind – und sich trotzdem ständig beklagen, ihre Meinung werde unterdrückt (was der Seminarleiter zu teilen scheint), weil sie offenbar Widerspruch mit Unterdrückung und Zensur gleichsetzen. Ich muss dabei immer wieder an meine Nachbarin denken, die in meiner Wahlheimat Leipzig als junge Lehrerin in der DDR aufgrund einer unerwünschten Meinungsäußerung ihren Beruf nicht mehr ausüben durfte, der ihre Kinder entzogen wurden, während man sie in die Psychiatrie einwies, und die bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren einen depressiven, eingeschüchterten und gebrochenen Eindruck machte. Und was ist mit all jenen, die gegenwärtig zu den Marginalisierten der Gesellschaft gehören und schon strukturell nicht die Möglichkeit haben, wie die Eingeladenen auf ihre Belange hinzuweisen?

Schon in der Konzeption des Seminars wird dadurch deutlich: Es scheint hier nicht um Meinungsfreiheit und ihre Unterdrückung zu gehen, sondern um Strategien der Meinungsverbreitung und -durchsetzung. Und daher ist es interessant, genauer hinzusehen, um was für Strategien es sich handelt: Bei der Suche nach diesen Strategien hilft eine Analyse des Vortrags des Althistorikers Egon Flaig im Rahmen der Veranstaltung. Er sprach über die «Umprägung zentraler politischer Begriffe und die Einschränkung des freien Denkens» und rief dabei Kants «Gerichtshof der Vernunft» an. Wir hörten Sätze, die ich vermutlich ganz lustig gefunden hätte, hätte ich sie in der Titanic gelesen: In der Öffentlichkeit würden regelmäßig falsche Metaphern verwendet, wie etwa die der ‹Abschottung Europas›. Das sei völlig unzutreffend, was man unter anderem daran erkenne, dass doch jedes Jahr Millionen von Touristen über die Grenzen gelassen werden. Und auch der Begriff der Fremdfeindlichkeit werde häufig völlig unzutreffend angewendet – nämlich auf Menschen, die selbst viele Sprachen sprächen und gerne ins Ausland reisten, der Begriff fremdenfeindlich werde also paradoxerweise häufig auf Leute angewendet, die eigentlich fremdenfreundlich seien.

In der Diskussion seines Vortrags stimmte ich seiner Analyse zu, dass es einer Debattenkultur nicht guttue, wenn bestimmte Gruppen asymmetrische Begriffspaare bildeten, mit denen sie bestimmte andere Gruppen abgrenzen und als moralisch und/oder intellektuell minderwertig diffamieren und ausschließen. Was ich jedoch frappierend finde, sei, dass er – obwohl er sich zu einer Gruppe rechne, die Opfer einer solchen asymmetrischen Dichotomisierung sei – gleichzeitig aber genau die Methode anwende, die er kritisiere. Er bilde eine grobe Gruppe, die er wahlweise Linke›, ‹NGOs›, ›Vertreter des Postkolonialismus› oder ‹die Medien› nenne, und spreche ihnen entweder eine intellektuelle Fähigkeit ab, die Wahrheit zu erkennen oder aber eine moralische Qualität, indem sie die Wahrheit zwar erkennten, diese aber verleugneten (die berühmte ‹Lügenpresse›). Zudem belege er diese Gruppe mit diffamierenden Begriffen wie «Primitivphilosophie» und «Lumpenjournalismus», und ich fragte ihn, ob er finde, dass er mit dieser Art der Rede der von ihm eingeforderten Debattenkultur einen Gefallen tue. Mit seiner Antwort hatte ich nicht gerechnet: Das habe er nicht gesagt, meinte er. Wenn ich solche Dinge behaupte, solle ich ihm das nachweisen. Er hatte offenbar Chuzpe, da wir seinen Vortrag nicht nur gehört hatten und nun an unserer Aufmerksamkeit zweifeln konnten, sondern wir seinen im Vorfeld ausgeteilten Text hatten mitlesen können. Doch als ich gerade ansetzte, ihm einige entsprechende Zitate vorzulesen, nahm Herr Schönecker als Moderator der Diskussion den Nächsten dran. Und auch in der Folge hörten wir wiederholt die Antwort, dieses und jenes habe er doch gar nicht gesagt, woraufhin die nächste Frage aufgerufen wurde. Einen Gerichtshof der Vernunft hatte ich mir anders vorgestellt. Stattdessen bewies sich offenbar die alte Sandkastenweisheit: «Was man sagt, ist man selber».

Das gleiche Prinzip kam Berichten zufolge zur Anwendung, als Herr Schönecker an dem Tag, an dem er selbst einen Vortrag hielt, die Anwesenden in «Freunde der Freiheit» und in «Feinde der Freiheit» einteilte und dabei seine Kritiker als die «Feinde der Freiheit» ansprach. Nach dieser diffamierenden Asymmetrisierung sei am Ende eine ebenso problematische Symmetrisierung erfolgt: Angesprochen auf Marc Jongens Forderung nach einer «Entsiffung des Kulturbetriebs», die durch ihre Objektivierung des Gegners an die Sprache der Nationalsozialisten erinnert, habe Herr Schönecker gemeint, das sei zwar schlimm, aber er habe schon mehrmals gehört, wir sollten die Universität Siegen nazifrei halten und das sei ja schon sehr nah bei judenfrei. Dieser Vergleich, wenn er denn so gezogen wurde, folgt der ebenfalls schon im Sandkasten zu lernenden Verteidigungsstrategie «Du aber auch», wie sie etwa von Trump nicht erst seit dem Anschlag in Charlottesville zur Perfektion getrieben wird und sich auch in Begriffen wie «Linksfaschismus» ausdrückt, den etwa heutzutage Mitglieder der AfD gerne verwenden. Die implizite Formel «nazifrei = judenfrei» stellt relativierend Opfer und Täter auf eine Stufe und verweist darauf, dass es mit einer uneingeschränkten Meinungsfreiheit in Deutschland etwas komplizierter ist als es auf den ersten Blick vielleicht erscheinen mag.

Doch noch einmal zur Frage der Rolle ‹der Medien›: Abgesehen von dem eindimensionalen und naiv wirkenden Bild der sich gegen sie verschworenen Medien, das immer wieder gezeichnet wird, wirkt diese These noch fragwürdiger, sieht man sich an, was in der vielgescholtenen Presse über die Veranstaltung «Denken und Denken lassen» und die Proteste dagegen berichtet wird. Denn die meisten Medienberichte fallen auf die Maskierung herein und berichten über eine unterdrückte Meinungsfreit und Denkverbote an der Universität Siegen statt über die Kritik an der Ausrichtung eines offenbar als politische Provokation angelegten Seminars. Und die Kritiker erscheinen darin tatsächlich erfolgreich als Feinde der Freiheit. Vielen Artikeln sieht man an, dass sie sich offenbar nur auf nur eine Quelle beziehen und wirken auf diese Weise teilweise wie Presseerklärungen von Herrn Schönecker. Und auch ein Bericht in der ZEIT, der alle Seiten zu Wort kommen lässt, erinnert eher an vergangen geglaubte Berichte über die Frauenbewegung, nur, dass es hier statt Frauen die Kritiker sind, deren Anliegen durch die klassische Konstruktion einer asymmetrischen Duellsituation diskreditiert werden, in der Denken gegen Körperlichkeit, Rationalität gegen Hysterie, Kultur gegen Natur ausgespielt wird. Da ist die eine Seite, der der meiste Platz eingeräumt wird, es ist die Seite des Denkenden: Ein Professor, der sich auf Kant beruft, irgendwie ein Philosoph, wie man sich ihn vorstellt, einer, dem es allein um das Gute und Wahre geht, der in der Lage ist, verschiedene Meinungen auszuhalten und der – ohne mit ihnen inhaltlich übereinzustimmen – mit seinen Gastrednern mitfühlt und sich für sie einsetzt, weil sie einem enormen öffentlichen Druck ausgesetzt seien. Einer, dem sogar «die Antifa» (wer soll das sein?) Toleranz und Liberalität attestiert und dem nun Unrecht widerfährt, weil seine Kritiker genau diese seine Größe nicht haben. Während Herr Schönecker nur anhand seiner Aussagen dargestellt wird, werden alle Kritiker in ihrer Körperlichkeit beschrieben und dabei als in extremen Zuständen befindlich: fließende Tränen, errötete Wangen, zitternde Hände, starrende Blicke, atemlos und in Trance, monatelang von kreisenden Gedanken heimgesucht und adrenalingetränkt, dazu ein Rektor, der lieber fünf Stockwerke «rennt» als den Fahrstuhl zu nehmen, einer der als unkonventionell und unberechenbar gilt. Und es sind Schöneckers Kritiker, von denen der Konflikt ausgeht: Emotional gesteuert wie sie sind, laufen sie Sturm, reden von Krieg und kleben ihm anonym (=feige?) «Fuck AfD»-Aufkleber auf den Bürostuhl. Und während Herrn Schöneckers Gedächtnis funktioniert, setzt das seiner Kritiker bewusst oder unbewusst aus.

Armin Beverungen, Markus Burkhardt und Tatjana Seitz haben in ihrem Blogbeitrag für die Zeitschrift für Medienwissenschaften nicht nur darauf hingewiesen, dass die von vielen Medien aufgegriffene Rede Schöneckers von einer «Streichung» seiner Universitätsmittel die Situation nicht adäquat wiedergibt, sondern auch sehr gut herausgearbeitet, wie die rechte Blogosphäre die Bälle der FAZ aufnimmt. Und es bleibt für mich unverständlich, wie man, wie Herr Schönecker, achselzuckend sagen kann, man sei für das, was aus seiner Veranstaltung gemacht werde, nicht in irgendeiner Weise mit verantwortlich. Und auch hier bleiben viele Fragen offen: Was heißt es für die Meinungsfreiheit, wenn der Online-Kommentarbereich zum ersten FAZ-Bericht von Thomas Thiel zum Thema noch geöffnet ist, als einige Kolleginnen und Kollegen aus Siegen auf die Einseitigkeit und Fehlerhaftigkeit des Berichts hinweisen, nach Schließung des Bereichs aber bis auf eine Ausnahme nur Kommentare auftauchen, die die im Artikel formulierte Behauptung von Denkverboten stützen? Und was bedeutet es, wenn in der FAZ eine Selbstdarstellung von Herrn Schönecker der offensichtlich vorher fertiggestellten Stellungnahme des Dekans der philosophischen Fakultät vorgezogen wird, wodurch er ganz offenbar auf diese Weise die von dem Dekan aufgeworfenen Fragen zum Teil beantworten konnte, bevor diese dann erst am darauffolgenden Tag erschienen?2

Ich würde sagen, diejenigen, die eine linke Meinungsmanipulation in den Medien behaupten, haben in diesem Fall keinen Grund zur Klage. In der regionalen wie überregionalen Berichterstattung über die Veranstaltung von Herrn Schönecker scheinen eher die Kritiker daran einer «Verschwörung» zum Opfer gefallen zu sein. Und so hat die Veranstaltung letztlich doch noch einen Erkenntnisgewinn gebracht: Die Strategie der maskierenden Umkehrung und der feindlichen Mimesis, die einen Zustand der Indifferenz erzeugt, welcher genutzt werden kann, um wahlweise und willkürlich entweder eine Symmetrie oder eine Asymmetrie herauszustellen, scheint aufzugehen. Die Maske der bedrohten Meinungsfreiheit ist offenbar schwer zu entreißen und ich bin gespannt, wie sich die Diskussion heute hier entwickelt.

So bleibt am Ende nur ein weiteres Mal zu betonen, dass es bei der Kritik an der Veranstaltung «Denken und denken lassen» nicht um die Einschränkung der Meinungs- oder Wissenschaftsfreiheit geht, nicht um Denkverbote oder Dogmatismus, sondern gerade im Gegenteil um eine vermisste Differenzierung, Meinungsvielfalt und Kontroverse, wie es nicht nur der medienwissenschaftliche Mittelbau bereits im November letzten Jahres in einer öffentlichen Stellungnahme zum Ausdruck gebracht hat. Es geht um Kritik an einer Veranstaltung, die auch ich angesichts ihrer Konzeption und ihrer Durchführung, soweit ich sie mitbekommen habe, leider nicht als eine freie und offene Diskussion über Meinungsfreiheit, sondern nur als einseitige politische Demonstration und Provokation wahrnehmen kann – und damit als Teil dessen, was immer wieder als Normalisierungsstrategie des rechten Denkens bezeichnet und analysiert wird. Und ich fürchte, dass es bei allen erwähnten Unklarheiten, die diese Veranstaltung begleiten, doch alles so klar und einfach ist. Und das wird man doch wohl noch sagen dürfen, ohne dass einem Meinungsunterdrückung und Denkverbote vorgeworfen werden.

  • 1Dieser Text ist eine leicht überarbeitete Version meines einführenden Vortrags zur Veranstaltung am 17.01.2019 an der Universität Siegen. Einführende Vorträge wurden außerdem gehalten von Prof. Dr. Friedemann Vogel (Germanistik) und Prof. Dr. Stefan Kutzner (Soziologie). Eingeladen waren auch Prof. Dr. Gerd Morgenthaler (Wirtschaftsrecht), Prof. Dr. Dieter Schönecker (Philosophie) und der FAZ-Journalist Patrick Bahners. Organisiert wurde die Veranstaltung vom Medienwissenschaftlichen Seminar und dem Rektor der Universität Siegen.
  • 2Der anwesende Thomas Thiel begründete das nachträgliche Erscheinen damit, dass der Beitrag von Niels Werber als Leserbrief von einer anderen und unabhängigen Redaktion betreut worden sei.

Bevorzugte Zitationsweise

Voss, Ehler: Maskierung als Methode. Zur Diskussion um das Seminar «Denken und Denken lassen» an der Universität Siegen. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Debattenbeitrag, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/debattenbeitrag/maskierung-als-methode.

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