Filmgeschichte als Kinogeschichte
Lars Henrik Gass: Filmgeschichte als Kinogeschichte. Eine kleine Theorie des Kinos. Leipzig (Spector Books) 2019
Wie ein Schwanengesang und eine Brandrede zugleich erscheint Lars Henrik Gass’ Filmgeschichte als Kinogeschichte. Das Bändchen enthält Erinnerungen an Episoden der Filmgeschichte, um darin Spuren des kinematografischen Wahrnehmungsgefüges freizulegen. Doch wird damit kein historistisches Projekt verfolgt: Vielmehr sieht sich Geschichte mit dem proklamierten Ziel durchgearbeitet, einen Begriff des Kinos zu entwickeln – «eine kleine Theorie des Kinos» lautet demzufolge der Untertitel. Mittels dieser historisch-materialistischen Methode formuliert der Autor schließlich eine harsche Kritik gegenwärtiger audiovisueller Medienkulturen, die mit der alten Massenkultur des Kinos nicht mehr viel gemein haben.
Das Gros des Buchs machen vier, zum Teil bereits andernorts veröffentlichte Essays aus, die sich Slapstickfilmen der 1910er und 1920er Jahre, dem frühen Tonfilm, New Hollywood und dem Kino der späten 1970er bis in die 1990er Jahre widmen. Die eklektische Filmauswahl ist geprägt vom Autor_innenfilm, vereinzelt werden Blockbuster besprochen. Gass strebt keine systematische Darstellung der jeweiligen Zeiträume oder Genres an; stattdessen werden die Filme in close readings dahingehend befragt, was sich in ihnen über die Apparatur des Kinos und über die historisch gewordene Filmwahrnehmung ausdrückt. Anders aber als etwa in Anne und Joachim Paechs Buch Menschen im Kino (2000) geht es nicht um manifeste Bilder des Kinos und der Filmvorführung. Stattdessen liegt dem Buch die Annahme zugrunde, «dass Kino uns einmal [...] eine Wahrnehmung [hat] aufzwingen können, die sich Subjektivität, unserer Meinung über die Welt und deren individuellem Gebrauch entgegenstellte». (S. 12) Zentral also für diese Auffassung ist das Kino als Einrichtung zur Wahrnehmung der Welt. Artikuliert Gass sowohl einen emphatischen Blick auf Wirklichkeit mittels Kino, als auch die dortige Oktroyanz historisch spezifischer Wahrnehmungsmodi, dann kreuzen sich Siegfried Kracauers Rede von der «Errettung äußerer Wirklichkeit» und Walter Benjamins These von der Apperzeption der Kinozuschauer_innen gegenüber den Bewegungen, Rhythmen, Taktungen der entfesselten Moderne.
In der produktiven Verschränkung von sozialhistorischer und ästhetischer Perspektive steht Gass überhaupt in der Tradition der Kritischen Theorie. Durchweg scharf gestellt werden in konzisen Beschreibungen und komprimierten Analysen filmische Sicht- und Hörbarmachungen, Körper- und Affektregime, bildpolitische und -ästhetische Arrangements, Wirkungs- und Beziehungsweisen. Seine Einlassungen zu so unterschiedlichen Filmen wie Buster Keatons The Electric House (1920), Dennis Hoppers The Last Movie (1971) oder Kathryn Bigelows Strange Days (1995), um nur einige wenige zu nennen, lesen sich stilistisch hervorragend und sind, wichtiger noch, Einlassungen im Sinne eines sich idiosynkratrischen Versenkens ins Material.
Ist es der Zweck der filmhistorischen Streifzüge, ein Verständnis von Kinogeschichte zu entwickeln, wäre womöglich die Umkehrung des Buchtitels in «Kinogeschichte als Filmgeschichte» passender gewesen. Wo Gass mit dem Kino nicht zuletzt auf der Ereignishaftigkeit des Films besteht (trotz der unterschiedlichen epistemologischen und theoretischen Register gibt es hier eine Nähe zu Sabine Nessels Untersuchung zum Kino als Ereignis [2008]), gleichzeitig aber den historischen Wandel der Schaueinrichtung (bei Persistenz ihres öffentlichen Charakters) ausschließlich über die filmischen Artefakte nachzeichnen will, ergibt sich ein gewisses Spannungsverhältnis: Denn die detailreichen Lektüren der Filme lassen es als zumindest nicht unwahrscheinlich erscheinen, dass ihnen hier und da Sichtungen jenseits des Kinoraums zugrunde liegen. Einer solchen Mutmaßung geht es nicht darum, möglicherweise benutzte Medien wie VHS, DVD, Files oder Streaming gegen das Ansinnen des Buchs in Stellung zu bringen. Jedoch machen jene eventuellen filmdistributiven Spuren in Gass’ Text auch implizit und nicht nur argumentativ die Filmschau im Kino zum Anachronismus.
Bei aller mehr als berechtigten und lautstarken Forderung nach einer gewissenhafteren und lustvolleren Pflege der historischen Filmkultur und einer besseren Finanzierung durch die öffentliche Hand gerade in der Bundesrepublik weiß Gass und macht dies explizit, dass gegen das «Ende des Kinos» (so Titel des vorletzten Kapitels) wenig auszurichten ist. Denn gegen die medientechnische Ausdifferenzierung und Heterogenisierung des Films und dessen Verschwimmen mit anderen Artefakten visueller Kultur ist kein Kraut gewachsen. Aus diesem gegenwärtigen Zusammenhang herausgeschrieben, kann das Buch noch klarer dem Verlust des Kinos als zentralem Ort der Filmerfahrung ins Auge sehen. Mit seiner Emphase des Kinos knüpft Gass explizit an Karsten Wittes Forderung nach einer «Theorie des Kinos» aus den 1970er Jahren an, lässt allerdings weitere Vertreterinnen der Filmwissenschaft in der Tradition der Kritischen Theorie wie Miriam Hansen, Gertrud Koch oder Heide Schlüpmann, die allesamt zur Kinoerfahrung gearbeitet haben, leider unerwähnt.
Die größte Stärke des Buchs ist, das allmähliche Verschwinden des Kinos überhaupt zu beklagen und nicht lediglich als medienhistorischen Lauf der Dinge zu registrieren. Hierin zeigt sich der Mut zur normativen Setzung. Dies gesagt, überrascht jedoch, dass der Begriff der Kulturindustrie nicht wieder ins Feld gebracht wird. Das schiene nicht zuletzt angesichts Gass’ ätzender Kritik an der Merchandisingmaschinerie von Jaws (1975) naheliegend. Steven Spielberg aber als Belzebub einer forcierten Verlängerung filmindustrieller Wertschöpfungsketten darzustellen, ist nicht nur wohlbekannt, ja abgedroschen, sondern greift zu kurz: Wenn Gass die Ausweitung filmischer Absatzmärkte jenseits des Kinovertriebs als Vorboten eines umfassenderen Austriebs des Films aus dem Kino interpretiert, liest sich das zu sehr nach Sündenfall. Ereilt doch die Kommodifikation den Film nicht irgendwann, ist sie ihm hingegen schon immer inhärent. Sicherlich ist die Ausräumung des Kinos Resultat medientechnischer Entwicklungen, die immer auch ökonomische sind; man denke daran, dass der Siegeszug der Videokassette in westlichen Ländern sich vorweg dem Pornofilm verdankte. Doch war das Kino niemals ein glücklicher Unfall kapitalistischer Produktionsverhältnisse und deren Vergesellschaftungsformen. Als deren Gegengeschichte taugt das Kino aber deshalb, weil es die Zuschauer_innen eben nicht einfach, wie Benjamin argumentierte, in das Bestehende lustvoll integrierte, sondern weil es die Realabstraktion zum sinnlichen Ausdruck zwang. Das Kino fungierte als Kompensation verdinglichter Beziehungen in der Moderne – nicht aber indem es der Regression antimodernistisch Vorschub geleistet hätte, sondern weil die öffentliche Filmerfahrung den Wunsch nach einer anderen, nicht instrumentellen Weise, zur Welt zu sein, enthielt. Darin liegt einer der wichtigsten Erkenntnisgehalte dieser «profane[n] Epiphanie» (S. 113) und begründet auch, was die unbändige Liebe zum Kino ausmacht
Die im Kino sich verkörpernde alte Öffentlichkeit ist verschwunden und mit ihr Weisen, die Welt zu sehen, ohne – für wenige Stunden zumindest – in derselben sein zu müssen. Dieser Wunsch zeigt sich noch in Praktiken wie dem binge watching; aber ihnen mangelt es nicht bloß an der kollektiven Assoziation, die heute hegemonial gewordenen Schauanordnungen sind überdies zumeist identisch mit den digitaltechnischen Arbeitsutensilien und -instrumenten. Dass das Kino angesichts dieser medienkulturellen Gegenwart erinnert werden muss, dafür ist Gass’ Buch Beweis und wichtiger Beitrag.
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