Experimental Film and Photochemical Practices
Kim Knowles: Experimental Film and Photochemical Practices (Palgrave Macmillian) 2020
Mit Experimental Film and Photochemical Practices hat die Filmwissenschaftlerin Kim Knowles (Aberystwyth University) eine sachkundige Studie zum praxeologischen und medienästhetischen Potenzial fotochemischer Verfahren in rezenten filmkünstlerischen Praktiken vorgelegt. Mit zahlreichen Fallbeispielen und dem von der Autorin als «auto-ethnographic account» (S. 19) ausgewiesenen Ansatz eröffnet das Buch nicht nur aufschlussreiche Einblicke in die große Diversität fotochemischer Verfahren, sondern bietet mit Anleihen aus Medienarchäologie, Medienökologie und Neuen Materialismen auch eine medienphilosophisch grundierte Neubewertung materieller Medienpraktiken vor dem Horizont der fortschreitenden technologischen Entwicklung. Indem die Autorin argumentiert, dass digitale und analoge Medienkulturen sich weder diametral gegenüberstehen noch in eine lineare Technikgeschichte eingefasst werden können, illustriert das Buch die andauernde Relevanz des Analogen – sowohl für die künstlerische Praxis als auch für die Film-, Kunst- und Medienwissenschaft.
Experimental Film and Photochemical Practices ist in fünf Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel («The Matter of Media») verortet den Gegenstand des künstlerischen Analogfilms in aktuellen wissenschaftlichen Diskursen. Ausgehend von einem Verweis auf das Paradigma der Postkinematografie als Gegenwart des Films im Digitalzeitalter problematisiert Knowles zunächst das Konzept sog. ›neuer Medien‹ bzw. den Binarismus alter und neuer Medien (S. 1). Im Paradigma der Obsoleszenz, das der Dialektik von Altem und Neuen unweigerlich zu Grunde liege (S. 8), sieht Knowles den Grund für diverse Vorurteile gegenüber vermeintlich überholten – z. B. analogen – Medienformen im Angesicht ihrer technologischen Überformung. Im Narrativ der ständigen Selbstüberwindung werde das ›Alte‹ als bloße Folie der Absetzung konstruiert und damit auf eine prekäre Position verwiesen (S. 3). Auch die Vorstellung, dass digitale Technologien analogen Techniken zur Vervollkommnung verhälfen, leiste letztlich einem postfordistischen Fortschrittsnarrativ medialer Entwicklung Vorschub. Dieses, so argumentiert Knowles mit Bezug auf Slavoj Žižek, Mark B.N. Hansen und David N. Rodowick, gilt es angesichts der Persistenz künstlerischer Analogfilmpraxis und zu Gunsten einer angemessenen Theoretisierung fotochemischer Verfahren vor dem Horizont digitaler Medienkulturen zu überwinden (S. 4). Mit Nostalgie und Anachronismus werden zwei argumentative Schlüsselbegriffe einer kritischen Revision unterzogen und neu ausgerichtet: eine nicht rückwärtsgewandte, sondern auf die Zukunft bezogene Nostalgie («prospective» oder «reflexive nostalgia», S. 5) als reflexiver medienpraktischer Standpunkt sowie ein Konzept des Anachronismus als ein die Aktualität und die Dominanz des Digitalen querender «counter-cultural-impulse» (S. 6). Experimentelles bzw. ‹handwerkliches› Filmemachen wird somit als eine in historische wie auch gegenwärtige Begriffe, Praktiken und Technologien audiovisueller Medialität eingelassene Geste herausgestellt. In ihrer Situiertheit, so Knowles, erforschen fotochemische Filmpraktiken das breite technisch-ästhetische Möglichkeitsspektrum des Films – und erfinden es dabei gleichsam neu (S. 6–7). Den Abschluss des ersten Kapitels bilden Überlegungen zu Musealisierung und Artefakt-Status analogfilmischer Objekte, die Knowles anhand mehrerer Filmausstellungen in Europa und den USA zwischen 2011 und 2017 ausführt.
Das zweite Kapitel («Materials, Materiality, New Materialism») entwickelt den theoretischen Kontext für das Nachdenken über analoge Filmpraktiken in der zeitgenössischen Medienkunst. Der Schwerpunkt liegt darauf, das materialgebundene Arbeiten mit Zelluloid, Licht und chemischen Emulsionen aber auch mit Werkzeugen, installativen Aufbauten und kinematografischen Apparaturen als medienreflexive Formierung neuer ästhetischer Formen auszuweisen. Knowles’ Analysen einzelner Arbeiten, u.a. der historischen Referenzen Man Ray (S. 27, 32, 46) und Paul Sharits (S. 28, 29, 55), zielen darauf ab, die Prozessualität des materiell-semantischen Film-Körpers mit dem menschlichen Körper engzuführen (S. 28 ff.), sodass die analoge Foto- oder Filmpraxis im Zeichen des postkinematografischen Digitalzeitalters als Referenzierung bzw. Reflexion von Verfall, Verlust und Erinnerung denkbar wird (S. 34). Der bereits im Einleitungskapitel aufgeworfene Begriff einer reflexiven Nostalgie bildet in diesem Kapitel den Vektor für eine politische Lesart materialer Medienpraktiken. Mit Peter Gidal argumentiert Knowles, dass dort, wo sich die Aufmerksamkeit auf die materiellen Prozesse des Films richtet, eine Dekonstruktion repräsentationaler Vorgänge in Gang gesetzt werde, während eine politische Ästhetik des Materials auf den Plan trete (S. 26). Dies leitet über zu einer Diskussion von (neo-)materialistischen bzw. medienökologischen Ansätzen – zwei zentralen Paradigmen zur Theoretisierung zeitgenössischer künstlerischer Praktiken, in denen die Performativität der Materie wie auch die Prozessualität filmischer Ästhetiken ins Zentrum gerät. Den wohl wichtigsten Begriff des Kapitels bietet jener einer Ästhetik des Kontakts («aesthetic of contact», S. 42), den die Autorin an filmischen Beispielen veranschaulicht, die auf direkten physischen Begegnungen von Körpern miteinander oder mit ihren Umwelten basieren – Berührungen, die die Zelluloidoberfläche registriert und artikuliert.
Im dritten Kapitel («Process and Perception») betrachtet Knowles eine Reihe zeitgenössischer Filmkünstler_innen. Der Fokus liegt auf dem Potenzial handwerklicher Verfahren und Techniken zur Generierung neuer filmischer Ausdrucksformen und affektiver Erfahrungsmomente (S. 72). Anstatt sich als Abbild der Welt zu präsentieren, so Knowles, unterstreichen die Filme ihren ontologischen Status einer Koemergenz mit der materiellen Wirklichkeit. Sie sind in diesem Sinne keine Repräsentationen, sondern prozessual-materielle Formen, die von der Interaktion zwischen Film und Wirklichkeit geprägt sind (S. 73). Dieses Medienverständnis und die Ästhetiken, die es auf den Plan ruft, werden durch spezifische Verfahren unterstrichen – beispielsweise in der nachträglichen Manipulation des Films durch Zerkratzen, Bemalen, Druckverfahren und chemische Behandlung (S. 73), oder auch durch Produktionsverfahren, bei denen die technischen und fotochemischen Eigenheiten der verwendeten Materialien und Apparaturen hervorgekehrt werden. Zentral ist in diesem Kapitel vor allem Knowles’ anhand der Arbeiten veranschaulichtes Argument, dass solche experimentellen Filme in eine inhumane oder posthumane Ästhetik eingeschrieben sind (S. 75). Die kontaktbasierte Ästhetik fotochemischer Filmpraktiken erweitere nicht nur das kinematografische Wahrnehmungsspektrum über rein visuelle Aspekte hinaus und zeitige alternative ‹Repräsentationen› der Welt, sondern berge auch ein verfremdendes, dezentrierendes und somit nicht-anthropozentrisches Potenzial (S. 87). Verfahren der händischen Filmentwicklung und fotochemischen Colorierung in den Arbeiten von Esther Urlus, Richard Tuohy und Francisca Duran dienen Knowles im zweiten Teil des Kapitels zur Veranschaulichung der These, dass Materialfilme stets mehr zeigen als das, was die Kamera aufgezeichnet hat. Praktiken, die der Zufälligkeit chemischer Reaktionen Einlass in die Formgebung gewähren, weisen zudem einen prozessorientierten Ansatz des Filmemachens aus, der die Welt wie auch das Medium in beständiger Veränderung wahrnimmt (S. 102). In der das Kapitel abschließenden Diskussion der Filme von Bea Haut und Jenny Baines spielt wiederum die Performance eine zentrale Rolle, um Parallelen zwischen den materiellen Zwängen der Schmalfilm-Kamera und den Begrenzungen des Körpers aufzuzeigen. Der Film bildet dabei das ‹Substrat› vielfältiger Materialtransformationen, die Darstellungskonventionen und Wahrnehmungsstabilitäten herausfordern können (S. 128).
Das vierte Kapitel («From Film Labs to Film Farms: Alternative Communities and Eco-Sensibilities») widmet sich den Orten und Netzwerken, in die das Aufleben fotochemischer Filmpraktiken aktuell eingebettet ist. Angesichts des Rückzugs des Zelluloidfilms aus der kommerziellen Filmproduktion ist eine lebendige, alternative und weltweit vernetzte «Do-It-Yourself»-Szene entstanden (S. 139). Der Überblick über die unabhängigen Gemeinschaften der Experimentalfilmszene wird dabei zu historischen Vorbildern in Bezug gesetzt – u.a. der London Film-Makers’ Co-Op (LFMC), die von 1966 bis 1999 existierte, mit assoziierten Künstler_innen wie Malcolm Le Grice oder Carolee Schneemann (S. 139–141). Die historischen und gegenwärtigen Labore stellen, so Knowles, keine hermetischen Rückzugsorte künstlerischer Avantgarden dar. Vielmehr bilden die «Film Labs» und «Film Farms» wichtige Infrastrukturen für die unabhängige filmkünstlerische Praxis, die auch dem Transfer von Praxiswissen dienen. Das Kapitel schließt mit einer Diskussion der Filmarbeiten von u.a. Eva Kolcze, Jennifer Reeves, Penny McCann und Deirdre Logue, deren Filmästhetiken (vgl. «film farm aesthetics», S. 161) Knowles zufolge entscheidend durch diese unabhängigen Zentren geprägt sind.
Im fünften Kapitel («Projecting Film, Expanding Cinema») widmet sich Knowles Filmprojektionen in Ausstellungsräumen, wo die Zukunft des fotochemischen Films angesichts der flächendeckenden Digitaltechnologie in Kinos, Kulturinstitutionen und Home-Entertainment verortet wird (S. 186 f.). Die materiellen und performativen Überschüsse, die die Analogfilmrezeption durch die zunehmend ungewohnte Erfahrung zeitigt, Film nicht nur als Film sondern auch auf Film zu sehen, sind die zentralen Aspekte, denen Knowles anhand diverser Beispiele nachgeht, um den analogen Film abschließend nicht nur institutionell, sondern vor allem auch rezeptionsästhetisch zu verorten. Die Konvergenz des Kinematografischen mit den Genres von Installation und Performance (S. 196), die Knowles anführt, mag – mit Blick auf die Kopräsenz von Filmmaterial, bewegten Bildern und Tönen, Projektionsapparatur und Rezipientin – für den fotochemischen Film im Besonderen gelten. Zugleich kommt Knowles nun auch wieder auf das zu Beginn aufgegriffene Paradigma des Postkinematografischen zurück, in dem der Film nicht nur seine klassischen Orte Kino und Fernsehen verlassen hat, sondern in den Museen, Galerien und alternativen Kulturstätten der Gegenwart auch immer weiter in den Modus seiner selbstreflexiven Inszenierung übergeht (S. 198).
Den größten Gewinn werden die Leser_innen von Experimental Film and Photochemical Practices aus der Materialfülle und seiner informativen Auswertung ziehen, die Knowles vielschichtige theoretische Einlassungen ergänzen. Der zwanglose Anschluss der Argumentation an gegenwärtige theoretische Debatten aus den Feldern der neuen Materialismen und der Medienökologie sowie das punktuelle Aufrufen filmhistorischer Schlüsseltexte machen das Buch zu einer überaus lesenswerten Studie, die einen wertvollen Beitrag zum Diskurs zeitgenössischer Medienkunst und analoger Filmpraxis leistet. Über die in der Einleitung aufgeworfene Diskussion medialer Historizität hinaus wäre noch eine vertiefende Diskussion analoger und digitaler Filmbildlichkeit – auch im Sinne eines klar ausgewiesenen Medienbegriffs – hilfreich gewesen. So scheint es stellenweise, als ob Knowles’ Studie gerade durch die große Wertschätzung für fotochemische Filmpraktiken hin und wieder selbst in den Grenzbereich eines dualistischen Denkens des Digitalen und Analogen, des Experimentellen und Konventionellen gerät, in dem sich die kritisch-politischen Implikationen filmkünstlerischer Milieus ausschließlich im Bereich fotochemischer Materialität artikulieren können. Dieser Aspekt schmälert aber nicht den Gewinn der zahlreichen Einsichten, die Knowles’ Buch in seiner Anschaulichkeit und der großen Sensibilität für seine Gegenstände entfaltet.
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