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Onlinebesprechung

Dance of Values

30.5.2021

Elena Vogman: Dance of Values. Sergei Eisenstein’s Capital Project. Zürich (diaphanes) 2019

Als 1928 Nachrichten die Runde machen, der sowjetische Regisseur Sergej M. Eisenstein habe nichts weniger vor, als Karl Marx‘ Das Kapital zu verfilmen, kommentiert ein Zeitgenosse:

S.M. Eisenstein ist in eine äußerst schwierige und dumme Lage geraten. […] Dem Weltregisseur erschien es als kleinlich, Teilexperimente durchzuführen, […] er musste Weltprobleme lösen.1

Unmittelbar nach Beendigung des Drehs zu seinem Mammutprojekt Oktober notiert der 29-jährige Eisenstein, eine Verfilmung des Kapitals «nach dem Drehbuch von Karl Marx» sei «die einzige formale Lösung».2

Was aus Perspektive der überkommenen Tradition Wahnsinn sein musste, war für Eisenstein die konsequente Weiterführung seiner filmischen Experimente, wie sie schon in Streik (1925) und Panzerkreuzer Potemkin (1925) Anwendung gefunden hatten. Eisensteins Anspruch, dialektisch die Relevanz der marxistischen Theorie für den Alltagsgebrauch darzustellen, hatte nichts weniger als die Revolutionierung des Sehens und Denkens im Sinn. Eisensteins Arbeit am Kapital war durch die Bemühung gekennzeichnet, ein Konzept der Montage in der Dynamik der Dialektik zu begründen und darüber hinaus die Art und Weise hervorzuheben, in der Erstere die konkretisierte (filmische) Form der Letzteren sei.

Eisensteins monumentale Idee der Verfilmung des Kapitals konnte niemals umgesetzt werden. Nichtsdestotrotz gilt der Frage nach der Bedeutung jenes ‹einzig möglichen formalen Auswegs› bis heute große Aufmerksamkeit, nicht nur von Seiten der Editions- und Rezeptionsgeschichte, sondern auch als Nährboden vergleichbar kolossalischer Filmprojekte (zuletzt Alexander Kluges zehnstündiger Filmessay Nachrichten aus der ideologischen Antike von 2008).

Die Frage, wie Eisensteins Kapital wohl ausgesehen hätte, führt zu seinen Notizen, Überlegungen und Vorstufen zum Film-Skript, deren fragmentarischer und prozessualer Charakter die Dynamik, Widersprüchlichkeit und Anstrengung des Denkens über (Re-)Präsentation in der Darstellungskrise der 1920er Jahre greifbar machen.

Elena Vogmans Studie Dance of Values: Sergei Eisenstein’s Capital Project (2019) widmet sich dem Zusammenhang avantgardistischer (Form-)Experimente und dem unter dem neuen medialen Regime der 1920er Jahre expandierenden Kapital. Nicht ohne Grund mag der rund dreihundert Seiten starke Band in der Reihe Think Art bei diaphanes erschienen sein – einer Reihe, die sich dem ‹kulturtheoretischen Potential ästhetischer Prozesse› widmet. Im Zentrum von Vogmans Analyse steht vor allem das visuelle Material der Notizbücher Eisensteins: Konstellationen und Konstruktionen aus Zeichnungen, Presse-Clippings, Diagramme und Fotografien, die in der Forschung bisher vernachlässigt oder in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit zugunsten einer ‹Einheit des Autors› eingehegt wurden:

Eisenstein’s direct references to the use value of images seem to have been successfully overlooked, despite the director’s insistence on their importance as arguments in their own right, an argument that is further underlined through his extensive image collection and library, his inventive drawing and drafting practice. (S. 23)

Während Eisensteins Notizen zum Kapital schon 1973 in Teilen veröffentlicht wurden, ist es Vogmans Verdienst, die (vor allem) visuellen Fragmente der Notizbücher aus dem Russischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst (RGALI) geborgen und einer Öffentlichkeit in der Verknüpfung epistemischer und ästhetischer Prozesse zugänglich gemacht zu haben.3

 So beinhaltet Dance of Values zahlreiche farbige Tafeln, anhand derer sich nicht nur Vogmans Argumentation, sondern eben auch Eisensteins Arbeitsmethode und -praxis nachvollziehen lassen. Der Autorin geht es dabei nicht um eine umfassende historische oder textgenetische Rekonstruktion des Kapital-Konvoluts, vielmehr um eine Konstellation verschiedener Eisenstein’scher Motive und ihrer materiellen, visuellen und linguistischen Operationen, über die sich die formale und methodische Besonderheit des Filmprojekts herauslesen lassen. Formale Elemente und konzeptionelle Formationen werden hier in eins gedacht – was das Manövrieren durch den Text bisweilen erschwert. Andererseits ermöglicht es die Gliederung der Studie nach Konzepten, Figuren und Formen von Eisenstein (wie beispielsweise Cassini’s Oval als Denkfigur , Melting Symbols als visuelle Dekonstruktion symbolischer Kultwerte, Gods and Reflexes als affektive Erweiterung der Attraktionsmontage), sich seinem beinah rhizomatischen, kaleidoskopartigen Denken im Lesen anzunähern. In der Bewegung dieser Denkprozesse fächert Vogman die ‹Dancing Values›, die ‹tanzenden Werte› des Kapital-Projekts und Eisensteins Arbeit an der Darstellung Marx’scher Begrifflichkeiten auf:

In [Eisenstein’s] aesthetic choices several of Marx’s concepts – such as ‹value form›, ‹metamorphosis of commodities›, ‹social metabolism› or ‹hieroglyphic› – are invoked, restaged, reanimated, brought to dance. (S. 9)

Vertrautheit nicht nur mit dem Marx’schen Wertbegriff, sondern auch mit Eisensteins Theorien der Montage als (dialektischer) Krise werden hier vorausgesetzt, was den Einstieg in das Material einerseits etwas abrupt wirken lässt, andererseits aber wohl der Überzeugung der Autorin geschuldet ist, die jeweiligen Konzepte könnten sich aus der Materialanalyse selbst bergen lassen.4

Lässt man sich auf bisweilen wenig definierte Konzepte wie ‹morphological juxtapositions› oder ‹intellectual attraction› ein, verknüpft das erste Kapitel The Value of Crisis eindrücklich den historischen Kontext der Repräsentationskrise der 1920er Jahre mit den künstlerischen und avantgardistischen Bewegungen auf der Suche nach den Möglichkeiten ihrer Darstellung. In der Disparität des Materials wird ein «echo [of] an essential need to not reduce the complexity of relations involved in political crisis, in the force of cinematic representation and its tendency towards totalitarian ostentation» (S. 37) sichtbar.

Zwischen Bewusstseinsstrom und der Aufmerksamkeit für das physiologische Detail, dem James Joyces Ulysses als Vorbild diente) einerseits und der Ansammlung quasi statistischer Daten (wie beispielsweise Faktografen wie Tretjakov es im Sinn hatten) andererseits changiert Eisensteins «novelist approach to film script» im Spannungsfeld zwischen «formal poetic construction and the documentary» (S. 34f.) – einer formalen Beziehung von Intentionalität und soziokultureller Formation, die gerade in den abgedruckten Tafeln der Publikation und Vogmans interpretatorischer Arbeit anschaulich wird.

Eisensteins «visual instruction in the dialectical method» (S. 40) bleibt Leitmotiv der folgenden Kapitel und wird in ihren zahlreichen Variationen vorgestellt, so anhand Eisensteins Auseinandersetzung mit mathematischen Figurationen wie Cassinis Oval als topologische Manifestation abstrakter Relationen (S. 85), oder an der Einführung des Laiendarstellers tipazh als «expressive presence» und «immediate appearance […] which unfolds into a series of conditions which constitute him» (S. 88f.). Immer wieder gelingt es Vogman, die Disparität der Aufzeichnungen Eisensteins einzuhegen und ihre inhärenten Beziehungen zwischen formalen Entscheidungen und epistemischen Prozessen aufzuzeigen.

Dass Marx’ Text des Kapitals dabei kaum zu Wort kommt, liegt weniger an einer Selektion der Autorin, als – darauf verweist das dritte Kapitel – einer produktiven Leerstelle in den Arbeiten Eisensteins selbst. Für den Regisseur war weniger die konkrete Analyse der Ökonomie als die Methode der Marx’schen Dialektik von Bedeutung. Wo beispielweise bei Marx im Tauschwert der Ware ein ‹unsichtbares Drittes› – abstrakt menschliche Arbeit – notwendigerweise verborgen liegt, setzt Eisenstein innerhalb seiner visuellen Ökonomie die Montage als Erzeugung eines Verhältnisses ein, das jenes Dritte sichtbar zu machen vermag. So verweist Vogman darauf, dass es Eisenstein gerade nicht um ein rein formales Experiment, um eine ästhetische Fingerübung geht. Seine Notizen zum Kapital-Projekt sind vielmehr als kritische (Re-)appropriierung kapitalistischer Blickweisen und -logiken zu verstehen. In der Konstellation des archivischen Materials beschreibt Vogman anschaulich, welches intellektuelle Unterfangen Eisenstein hier skizziert und in seinen Untersuchungen immer wieder transformiert und umdeutet: «a visual ‹treatise› that would directly affect thought without any conceptual mediation, generalization, or Begriff». (S. 90)

Eisenstein geht es dabei nicht um die Abschaffung des Begriffs (oder des begrifflichen Denkens) als solchem. In ihrem Status als Ausdruck eines bestimmten Klassenbewusstseins eröffnen die Begriffe, so Vogman, eine Art semiotischen Überschuss, der mit den Montagen Eisensteins in Assoziationsketten ‹zum Tanzen› gebracht werden soll. Abstrakte Begriffe bergen immer Spuren sinnlicher Erfahrung, die Aufschlüsse über politische und soziale Verhältnisse geben und ähnlich dem Marx’schen Diktum des ‹Tanzes versteinerter Verhältnisse› in dynamische Konstellationen gebracht werden können.

Vor allem die Erwähnung eines Zeitgenossen Eisensteins, Walter Benjamin, und dessen Konzeption eines Ausdruckszusammenhangs, den Vogman besonders im letzten Kapitel ihrer Studie beleuchtet, ermöglicht noch einmal eine produktive Konstellation zum Kapital-Projekt. In der Parallelisierung der beiden Autoren bettet Vogman das Anliegen des sowjetischen Regisseurs in den größeren Kontext einer Theorie der Kulturindustrie ein, die sich von einer dogmatischen Festlegung einer (rein) ökonomischen Analyse des Kapitals verabschiedet hatte. Dass es dabei weniger um die Ware auf dem Markt, sondern um die «Ware als Schaufensterauslage [geht,] in der der Tauschwert nicht weniger als der Gebrauchswert seine praktische Bedeutung eingebüßt hat, während ein rein repräsentativer Wert in den Vordergrund tritt»5, zeigt bereits das Titelbild von Vogmans Studie. Für Walter Benjamin zog jene Einsicht die Schlussfolgerung nach sich, dass «nicht die wirtschaftliche Entstehung der Kultur sondern der Ausdruck der Wirtschaft in ihrer Kultur darzustellen [sei]».6 In dieser Engstellung der Arbeiten Eisensteins und Benjamins hebt Vogman noch einmal hervor, dass sie im Kapital-Projekt kein gescheitertes Formexperiment sieht, sondern sich in den Arbeits- und Aufschreibeprozessen von Eisenstein eine Methode und ein Denken ausprägt, das die Filmform in einen breiteren politischen Kampf um die Darstellbarkeit des Politischen – «the aesthetic figuration of political subjects» (S. 248) – einfügt.

Fraglich bleibt, ob gut daran getan ist, Eisensteins rigorose Konzeptionalisierungen und Wortneuschöpfungen selbst als begriffliche Analysewerkzeuge zu verwenden. Die Studie wartet mit einer Überfülle an Konzepten auf, die in ihrer Masse weder trennscharf unterschieden werden noch einen Mehrwert zum Verständnis der Thesen Vogmans liefern. Dennoch löst sich trotz oder gerade aufgrund dieser begrifflichen Unschärfe das Versprechen der Studie ein, das Kaleidoskop des Eisenstein‘schen Kapital-Projekts, «its visual complexity as well as its epistemic efficacy», im Material selbst zu suchen. Der Tanz jener heterogenen Elemente, disparaten Fragmente und gebrochenen Erzählungen bleibt so kaum choreographiert, dafür aber – und ein anderes Nachleben will man ihm nicht wünschen – lebendig und für eine abschließende Synthese herausfordernd.

  • 1Ossip Brik: Ring Lefa, in: Novyi Lef 4 1928, zitiert nach: Elena Vogman: Dialektik des Blicks – Metamorphose des Werts, in: Michael Bies und Elisabetta Mengaldo: Marx konkret. Poetik und Ästhetik des Kapitals, Göttingen 2020, 281.
  • 2Sergej M. Eisenstein: Tagebuch vom 8.3.1928, RGALI 1923-2-1105, 118f., zitiert nach: Elena Vogman: Dialektik des Blicks – Metamorphose des Werts, in: Michael Bies und Elisabetta Mengaldo: Marx konkret. Poetik und Ästhetik des Kapitals, Göttingen 2020, 276–277.
  • 3 Die erste Publikation von visuellen Fragmenten aus Eisensteins Kapital-Projekt erfolgte im Herbst 2018: Elena Vogman: Dance of Values, in: Grey Room Vol. 72 2018, 94–124.
  • 4Interessierten Leser_innen sei an dieser Stelle eine Vorarbeit Vogmans empfohlen: Elena Vogman: Dialektik des Blicks – Metamorphose des Werts, in: Michael Bies und Elisabetta Mengaldo: Marx konkret. Poetik und Ästhetik des Kapitals, Göttingen 2020.
  • 5Susan Buck-Morss: Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagen-Werk, Frankfurt a. M. 1993, 108f.
  • 6Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. V/1, 1991, 573f.

Bevorzugte Zitationsweise

Adler, Caroline: Dance of Values. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Onlinebesprechung, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/besprechung/dance-values.

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